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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Autoren: Helene Wecker
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Laub zu fallen. Auf den Wegen lagen rostrote und goldene Blätter. Es war Samstagnachmittag, und der Park war voller Familien und verliebter Paare, die alle die letzten schönen Tage genossen.
    Zwei Frauen, die eine war auffällig groß, die andere schob einen Kinderwagen, spazierten auf der Droschkenstraße neben der Wiese an einem Dutzend Schafe vorbei, die friedlich Gras fraßen. Sie hielten ein wenig Abstand zueinander, und bislang hatten sie kaum etwas gesagt; doch jetzt fragte die große Frau: »Wie geht es dir, Anna?«
    »So gut es eben geht«, antwortete die junge Mutter. »Wenigstens ist es kühler geworden, und Tobys Koliken sind nicht mehr so schlimm.«
    Nach einer Weile sagte die große Frau: »Das freut mich, aber ich habe eigentlich an deine Lage gedacht.«
    Anna seufzte. »Ich weiß.« Sie gingen weiter. »Sie ist schwierig«, sagte sie dann. »Ich nehme so viele Wasch- und Näharbeiten an, wie ich kann, doch Toby fordert so viel Zeit! Aber ich komme über die Runden. Zumindest muss ich noch nicht auf die Straße.« Sie wollte es leichthin sagen, aber der Golem spürte ihre Angst davor, das Grauen, dass sie sich eines Tages nicht mehr anders zu helfen wüsste, als sich selbst zu verkaufen.
    Sie wusste, dass es sinnlos war, fragte aber trotzdem: »Anna, wenn du irgendetwas brauchst –«
    »Ist schon in Ordnung«, sagte Anna zugeknöpft, und der Golem nickte. Das Mädchen hatte bislang immer abgelehnt. »Wir kommen zurecht«, sagte sie in milderem Tonfall. Dann blickte sie zum Golem. »Und du? Wie geht es dir?«
    Der Golem schwieg einen Augenblick. »Wie dir«, antwortete sie schließlich. »So gut es eben geht.«
    Als klar war, dass sie es nicht weiter ausführen würde, sagte Anna: »Wie ich höre, arbeitest du noch bei den Radzins.«
    »Mrs. Radzin wollte mich nicht gehen lassen«, sagte der Golem.
Trauer, solange du willst
, hatte Mrs. Radzin gesagt.
Und dann komm zurück. Du hast hier immer einen Platz. Chavaleh. Wir sind jetzt deine Familie.
    Sie hatten Michael in Brooklyn begraben, und diesmal hatte sie sich über die Konventionen hinweggesetzt und war zur Beerdigung gegangen, hatte den Blicken seiner alten Freunde standgehalten, die nur darauf warteten, dass sie schluchzend zusammenbrach. Sie hatten nicht Schiwe gesessen, weil sie meinte, dass er es nicht gewollt hätte. Die Polizei hatte Nachforschungen angestellt – sie hatten auch sie befragt, und es war eine qualvolle Erfahrung gewesen – und legte den Fall dann wie den von Irving Wassermann in die Schublade
Ungelöst
und wandte ihre Aufmerksamkeit wichtigeren Dingen zu.
    Es ist nicht deine Schuld
, hatte Anna gesagt, aber sie hatte nicht wirklich überzeugt geklungen.
    Sie gingen weiter, Anna beruhigte den kleinen Toby, der greinend im Kinderwagen lag. Es war nicht klar, wie viel Anna von dem begriffen hatte, was an jenem Tag passiert war.
Im einen Augenblick habe ich den Sack versteckt, den du mir gegeben hast
, hatte sie dem Golem erklärt,
und im nächsten sagst du mir, dass ich weglaufen soll.
Der Golem hatte ihr kurze vage Antworten auf ihre Fragen gegeben. Es hätte ihr nur Angst gemacht, von ihrer benebelten Hilflosigkeit zu hören – und der Golem wollte Annas Entsetzen nicht spüren.
    Wenigstens ist der schreckliche alte Mann weg
, hatte Anna gesagt; und der Golem hatte ihr zugestimmt:
Ja, er ist weg.
Das entsprach natürlich nicht ganz der Wahrheit. Schaalman war zwar in der Flasche gefangen, aber er war immer noch ihr Meister, und sie waren aneinander gebunden. In stillen Momenten, wenn die Stadt schlief – oder hier im Park, wo nur wenige Gedanken sie ablenkten –, konnte sie ihn hören: ein zorniger Nadelstich, ein Heulen am Rand ihrer Sinne. Anfangs hatte es sie rasend gemacht, doch allmählich lernte sie, es als den Preis für ihr Überleben zu akzeptieren.
    Sie gingen über das gewölbte gusseiserne Band der Bow Bridge und hinein in den Urwald des Ramble. Laub raschelte unter ihren Füßen. Die Spätsommersonne schien auf einen Boden, der bereits abkühlte und schläfrig wurde. Der Golem schauderte. Der Winter würde lang und hart werden, das wusste der Park so gut wie sie.
    Hier waren mehr verliebte Paare als auf der Droschkenstraße. Sie nutzten die relative Abgeschiedenheit. Ein paar waren für mehr gekommen, als nur miteinander zu schäkern, und sie spürte sie versteckt zwischen den gewundenen Pfaden im dichten Wald, hinter großen bemoosten Felsen und steinernen Brücken: die heimlichen Paare, manche
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