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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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mitgenommen?«, fragte der Rabbi zornig. »Was ist das für ein Jude, der sich ohne seinen Tallitbeutel auf den Weg macht?«
    »Es hat mir niemand gesagt, dass ich ihn mitnehmen soll«, stotterte Jankel beschämt.
    »Was soll das heißen, es hat dir niemand gesagt?« Das Gesicht des Rabbis wurde rot, man sah ihm an, dass er sich nur mühsam beherrschte. »Du bist kein kleines Kind mehr, du bist schon Bar Mizwa, du bist dem Ewigen, gelobt sei er, selbst für alles verantwortlich, was du tust oder unterlässt.« Er nahm einen Gebetsmantel aus einer Kommodenschublade, breitete ihn aus und kontrollierte, ob die Schaufäden in Ordnung waren, bevor er ihn dem Jungen reichte, zusammen mit einem kostbaren, in Leder gebundenen Gebetbuch. »Für den Moment wollen wir es gut sein lassen und nicht mit zornigem Herzen vor den Herrn treten, aber wir werden später noch darüber sprechen müssen.«
    Unter den prüfenden Augen des Hohen Rabbis murmelte Jankel den Segen zum Anlegen des Tallit. Er fühlte sich unbehaglich und achtete darauf, jedes Wort deutlich auszusprechen, und später, beim Beten, versuchte er, den singenden Tonfall des Rabbis nachzuahmen und die Worte der heiligen Sprache ebenso schnell zu lesen, wie die beiden Männer es taten, aber er konnte es nicht, in dem dämmrigen Zwielicht verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen und immer wieder stolperte seine Zunge. Deshalb mussten der Rabbi und Schimon lange warten, bis der Junge stotternd die letzten Worte gelesen hatte, das Gebetbuch zuklappte und ehrfürchtig küsste. Der Rabbi schickte ihn voraus in die Küche, um Jente Bescheid zu sagen, dass sie gleich hinunterkämen, um ihre Morgenmahlzeit zu sich zu nehmen.
    Die Frauen hatten offenbar schon gegessen. Auch das Mädchen war inzwischen aufgestanden, die Kleine saß mit der Frau des Rabbis am anderen Ende des Tisches und las Erbsen aus einer blauen, irdenen Schüssel in einen Kochtopf. Vor lauter Eifer schob sie die Zungenspitze zwischen die Lippen. »Jankel, schau nur, was ich mache«, rief sie und beugte sich schon wieder über die Schüssel. Mit ihren kleinen Fingern war sie auf der Suche nach Verunreinigungen und angefaulten Erbsen schneller und geschickter als die alte Frau, und als diese sie lobte, wurde sie rot vor Stolz.
    Jente bediente die Männer. Sie bewegte sich flink und ihre Haare leuchteten wie Feuer und schienen die Küche zu erwärmen. Sie lächelte dem Jungen zu, er lächelte unsicher zurück.
    Der Hohe Rabbi griff nach dem Brot, und der Junge spürte plötzlich, wie hungrig er war, er konnte es kaum erwarten, dass der Rabbi den Segen sprechen würde. In diesem Moment waren schwere Schritte zu hören. Sie kamen die Treppe herunter und durchquerten den Flur. Der Rabbi erstarrte, hielt das Brot vor sich in der Luft, lauschte mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und wartete, bis die Haustür mit einem heftigen Schlag zugefallen war, erst dann entspannte er sich.
    »Wer war das?«, fragte Jankel erstaunt.
    »Ach, das war nur Josef«, sagte Jente schnell, und der Rabbi sagte langsam, ohne jemanden dabei anzuschauen: »Josef schläft oben in der Bodenkammer. Tagsüber ist er im Lehrhaus oder in der Schul* und erledigt die Aufgaben eines Syna gogendieners*, er kommt meist erst nach Hause, wenn es schon lange dunkel ist. Du brauchst keine Angst zu haben, du wirst ihn kaum sehen.«
    Der Junge schaute erstaunt von einem zum anderen. Es drängte ihn zu fragen, warum alle die Luft angehalten hatten, als sie diesen Josef hörten, warum er nicht mit ihnen gebetet hatte und warum er nicht hier am Tisch saß, aber er unterließ es, denn Jente blinzelte ihm zu und schüttelte fast unmerklich den Kopf.
    »Höre, Löw, ich habe mir etwas überlegt«, sagte die alte Frau plötzlich. »Dies hier ist kein Haus für solch ein kleines Mädchen, es ist zu düster und zu still. Wir sollten unsere Tochter Frume bitten, das Kind bei sich aufzunehmen. Ihre beiden Töchter Surele und Rejsele, sie mögen leben und gesund sein, sind doch ungefähr in ihrem Alter.« Sie zog die Hand aus der Schüssel mit Erbsen und wandte sich an ihren Mann, den Hohen Rabbi Löw. »Was meinst du dazu?« Eine Erbse rollte über den Tisch und blieb neben dem großen Messer liegen, mit dem der Rabbi das Brot geschnitten hatte.
    Jankel fuhr der Schreck durch die Glieder, er riss die Augen auf und blickte entsetzt von einem zum anderen. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass man seine kleine Schwester von ihm trennen könnte. Er musste doch auf
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