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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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und schob die Kinder in eine Küche, in der zwei Frauen arbeiteten, eine zierliche alte Frau mit einem schwarzen Spitzenschal über den weißen Haaren und eine in mittlerem Lebensalter, mit einem schönen Gesicht und einer kräftigen Gestalt. Unter ihrem dunkelblauen Kopftuch züngelten rote Haare hervor wie die Flämmchen eines wärmenden Holzfeuers im Winter. Beide Frauen hoben die Köpfe, als die Kinder eintraten, und betrachteten sie mit unverhohlener Neugier.
    »Diese Kinder sind die Enkel meiner Schwester Rosa, ihr Andenken gereiche uns zum Segen«, sagte Rabbi Löw. »Sie sind Waisen und haben keinen mehr, der für sie sorgt, deshalb werden sie hierbleiben, bei uns.«
    »Wir sind keine Waisen«, widersprach das Mädchen. »Unser Vater ist Srulik, der Bücherverkäufer. Er ist auf eine lange Reise gegangen, aber er kommt bestimmt irgendwann zurück und holt uns.«
    Die alte Frau nahm Rocheles Hände, beugte sich zu ihr und fragte: »Wie heißt du, Kind?«
    »Rochele«, sagte das Mädchen, »und das ist Jankel, mein Bruder.«
    Die alte Frau fragte freundlich: »Hast du Hunger, Rochele?«
    Rochele nickte. Natürlich hatte sie Hunger. Beide hatten sie Hunger. Sie brauchten das Wort nur zu hören, da wurde ihnen schwarz vor den Augen.
    »Mach ihnen einen Brei, Jente«, sagte die alte Frau zu der Rothaarigen. »Mach ihnen einen Brei und spare nicht mit der Butter.«
    Die Rothaarige kippte Milch aus einem Krug in einen Topf und stellte ihn auf den Herd, und als die Milch anfing zu kochen, rührte sie Grütze hinein. Die Kinder schauten ihr zu, sie konnten den Blick nicht von ihren flinken, weißen Händen wenden.
    D ie Küche füllte sich mit dem Geruch heißer Milch, ein Tropfen lief über und verbrannte zischend auf der heißen Platte. Jente rührte, bis die Grütze gequollen war, nahm den Topf vom Herd, süßte die Grütze mit Honig, füllte zwei Schalen voll und legte auf jede noch einen dicken Löffel Butter. Sie schob uns die Schalen hin. Die Butter schmolz und der süße, fette Duft stieg uns in die Nasen. Wir packten die Löffel, die sie uns hinhielt, und fingen an zu essen. Vorher war mir das Haus kalt und düster vorgekommen, aber als ich Jente sah, wurde mir warm. Bei ihrem Anblick hätte jeder aufgehört zu frieren.

2. Kapitel
Das war nur Josef
    B eim Einschlafen übt die Seele das Sterben, so sagt man, und bei jedem Aufwachen erinnert sie sich an ihre Geburt. Deshalb dauert es manchmal eine Weile, bis sie sich in ihrer Umgebung zurechtfindet.
    In Prag, im Haus des Hohen Rabbi Löw, war alles anders, als es in Mo ř ina gewesen war. Dort war der Junge vom Tageslicht geweckt worden, vom Gackern der Hühner, dem Krähen des Hahns und dem Gemecker der Ziege, die frisches Heu verlangte. Hier war es Schimon, der rundliche Talmudschüler, der ihn an der Schulter packte und flüsterte: »Steh auf, es ist Zeit für das Morgengebet.«
    Schlaftrunken schlug Jankel die Augen auf, schlaftrunken bewegte er seine Glieder, die noch schmerzten von dem langen Marsch, der hinter ihm lag. Es fiel ihm schwer, sich aus dem Traum zu lösen, aus dem ihn der Talmudschüler wachgerüttelt hatte. Im Traum war er auf der Landstraße, die von Mo ř ina aus nach Norden führte, zu den schlesischen Städten und Märkten, seinem Vater entgegengelaufen. Sein Vater ritt auf einem weißen Pferd und war von einem gleißenden Lichtschein umgeben, schön wie ein Engel des Herrn, und hatte ihm die Arme entgegengestreckt. Doch nun beugte sich statt des wettergebräunten, bärtigen Gesichts seines Vaters das blasse Gesicht Schimons über ihn, und statt der lauten, fröhlichen Stimme seines Vaters, die er so liebte, hörte er ein mürrisches Flüstern: »Beeil dich, der Rabbi wartet.«
    Jankel schlüpfte in seine Hose und seinen Rock, die nun wieder ganz trocken waren, fuhr sich mit beiden Händen durch die wirren, dunklen Haare und setzte seine Kipa auf, bevor er die Kammer verließ, in der Jente am Abend zuvor ein Lager für ihn und seine kleine Schwester bereitet hatte. Das Mädchen schlief noch.
    Im Studierzimmer wartete der Hohe Rabbi Löw. Er hatte sich bereits mit dem Gebetsmantel den Kopf verhüllt und die Gebetsriemen angelegt. Auch Schimon machte sich sofort an die Vorbereitungen zum Gebet. Durch das Fenster, das der Junge am Abend zuvor gar nicht bemerkt hatte, fiel blasses Licht.
    »Wo hast du deinen Tallit* und deine Tefillin*?«, fragte der Rabbi.
    Jankel senkte den Kopf. »Ich habe sie nicht mitgenommen.«
    »Nicht
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