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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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sie aufpassen, schließlich war er nicht nur dem Ewigen, gelobt sei er, für sie verantwortlich, sondern auch seinem Vater.
    Der Rabbi sprach den Segen über das Brot, bevor er es brach, ein Stück in den Mund schob und langsam kaute. Erst dann antwortete er bedächtig: »Du hast recht, Perl, so werden wir es machen.«
    Jankel blieb der Bissen im Hals stecken, er verschluckte sich und musste so sehr husten, dass er nur ein »Aber …« herausbrachte.
    Doch die Tante schien zu ahnen, was er sagen wollte. »Sorge dich nicht«, sagte sie und legte beruhigend ihre Hand auf seine. »Unsere Tochter wohnt nur ein paar Gassen weiter, ganz in der Nähe vom Lehrhaus. Du kannst deine Schwester so oft sehen, wie du willst.«
    Jankel schaute zu seiner kleinen Schwester hinüber. Sie saß bewegungslos da, eine Erbse zwischen Daumen und Zeigefinger, und starrte mit aufgerissenen Augen den Hohen Rabbi Löw an. Ihre Augen waren groß und feucht. Jankel senkte den Kopf, er wagte es nicht, zu widersprechen.
    W as hätte ich auch sagen können? Dass es nicht nur darum ging, dass ich sie sah? Seit ihrer Geburt, seit jenem schrecklichen Tag, als unsere Mutter von uns genommen wurde und in die andere Welt ging, hatten meine Schwester und ich in einem Bett geschlafen. Erst hatte sie als hilfloser Säugling neben mir gelegen, und wenn ich morgens aufwachte, hatte ich lange die fuchtelnden Fäustchen betrachtet, das Gesicht mit den großen, braunen Augen und den langen Wimpern, den zahnlosen Mund, der sich zu einem Lächeln verzog, wenn sie mich erkannte. Ich hatte ihren süßen lallenden Tönen gelauscht und war glücklich gewesen, als sie langsam lernte, meinen Namen auszusprechen, noch bevor sie »Tante« sagen konnte. Dann, als sie größer wurde, hatte sie sich abends dicht an mich geschmiegt, besonders im Winter, wenn draußen der Wind pfiff und die eisige Kälte durch die Holzwände drang. Wie zwei junge Hunde hatten wir uns gegenseitig warm gehalten. Über vier Jahre lang hatte ich sie Abend für Abend neben mir gespürt, und ihre flatternden Atemzüge hatten mich in den Schlaf begleitet, bis hinein in meine Träume.
    Nein, es ging nicht nur darum, ob ich sie sah, aber das konnte ich nicht sagen. Nicht vor diesem Mann, dem es, wie mir schien, vollkommen gleichgültig war, was wir empfanden.
    J ente soll das Kind noch heute Vormittag zu Frume bringen«, entschied der Rabbi. Er schaute den Jungen prüfend an, strich sich über den Bart und wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Und was ist mit dir? Wir müssen eine Arbeit für dich finden, denn es steht geschrieben: Dass keiner das Brot des Müßiggangs esse . Und zum Studium des Talmud hast du offen bar keine Neigung.«
    Jankel hob zögernd die Schultern hoch.
    »Was hast du denn den ganzen Tag gemacht, als du noch zu Hause warst?«, fragte der Rabbi.
    »Ich habe die Hühner versorgt und die Ziege gehütet«, antwortete Jankel, »und auf das Haus und meine Schwester aufgepasst. Und wenn ich alles erledigt hatte, habe ich dem Nachbarn bei der Feldarbeit und dem Vieh geholfen.« Stolz fügte er hinzu: »Ich kann sehr gut melken und ich kann sogar mit Pferden umgehen.«
    Der Mund der alten Frau verzog sich zu einem Lachen, der Rabbi wiegte noch immer den Kopf hin und her. »Wir haben hier weder Felder noch Kühe«, sagte er dann, »und Pferde schon gar nicht, und das Haus versorgen deine Tante Perl und Jente, da bleibt für dich nichts zu tun. Aber du musst dich mit etwas beschäftigen, du brauchst Pflichten, damit du hier bleibst, wo dein Platz ist, und dich nicht unnötig unter die Ungläubigen mischst, wie andere junge Männer das so gerne tun. Denn glaube mir, für einen Juden ist das Leben hier nicht ungefährlich, auch wenn man das nicht sofort merkt. Es gibt in Prag genügend Judenhasser, und ihre Bereitschaft, Gewalt gegen uns auszuüben, nimmt zu. Wir leben in einer schweren Zeit und müssen vorsichtig sein.«
    » Der Ewige, gelobt sei er, möge uns heute und jeden Tag retten vor frechen Menschen, vor bösem Geschehen und dem verderblichen Satan «, murmelte die alte Frau und streichelte dem Mädchen über die dunklen Locken.
    Jankel senkte den Kopf und hob ihn erst wieder, als er Jentes Stimme hörte. »Hoher Rabbi«, sagte sie, »man könnte den Jungen vielleicht zu Mendel geben. Ich habe erst gestern auf dem Markt gehört, dass er sich nach einem jungen Gehilfen umschaut.«
    »Mendel, der Bäcker?«, fragte der Rabbi.
    »Ja, Mendel, der Bäcker.«
    Der Rabbi betrachtete
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