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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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buschigen, zusammengewachsenen Augenbrauen über einer großen Nase mit breiten Nasenflügeln. Der Junge war wie gelähmt. Der Mann sah aus wie einer der Dämonen, vor denen ihre Tante sie immer gewarnt hatte. Die Dämonen, sagte sie, lauern des Nachts auf ihre Opfer, um sie im Schutz der Dunkelheit zu überfallen und ihnen Böses anzutun. Dämonen steigen aus der Unterwelt auf und strecken ihre gierigen Hände nach uns aus.
    »Wer seid ihr und was wollt ihr?«, fragte der Mann noch einmal. Der Junge hörte die Ungeduld in seiner Stimme, die, wie ihm auffiel, nicht so alt und schwach war, wie man seinem Aussehen nach erwartet hätte, sondern wie die eines Mannes in der Blüte seiner Jahre.
    Der Junge trat einen Schritt näher, wagte aber nicht, ihm beim Sprechen ins Gesicht zu schauen, er hielt die Augen gesenkt. »Ich bin Jankel«, sagte er. »Ich bin Jankel, der Sohn von Srulik, dem Bücherverkäufer, und von Rachel, ihr Andenken gereiche uns zum Segen, deren Mutter Rosa aus der fernen Stadt Worms nach Böhmen gekommen ist. Unsere Tante Schejndl, der Herr schenke ihr Genesung, hat uns hierhergeschickt. Sie ist krank geworden, der Schlagfluss hat sie getroffen, sie braucht jetzt selbst Hilfe und kann nicht mehr für uns sorgen, und unser Vater ist vor drei Monaten mit seinen Büchern losgezogen und bis heute noch nicht wiedergekommen, und wir wissen nicht …«
    I ch hatte mich bemüht, laut und mit fester Stimme zu sprechen, um meine Angst zu verbergen, und hatte insgeheim gebetet, dass meine Stimme sich nicht überschlagen und anfangen würde zu quietschen, wie wenn man mit einem Nagel über einen Kochtopf kratzt, was sie in der letzten Zeit häufig tat. Bei den letzten Worten war es aber doch passiert, meine Stimme ließ mich im Stich, aus meiner Kehle kam nur ein Quieken. Beschämt schwieg ich. Auf einmal spürte ich wieder, wie mir die feuchte Kleidung am Körper klebte.
    D as Mädchen ließ die Rockschöße ihres Bruders los und schob sich neben ihn. Ihre helle Stimme klang seltsam fremd und unpassend in diesem düsteren Raum, als sie sagte: »Vielleicht ist er krank geworden, hat Tante Schejndl gesagt. Es kann nur eine Krankheit oder sonst etwas Schlimmes sein, das ihn davon abgehalten hat, zu uns zurückzukommen.« Sie tastete nach der Hand des Jungen.
    Der Hohe Rabbi Löw betrachtete die Kleine neugierig. Auf einmal verlor er etwas von dem Dämonischen, und als er lächelte, sah er fast aus wie ein alter, freundlicher Mann. Der Junge drückte die Hand seiner tapferen Schwester und lächelte auch. Diesmal konnte er dem Mann ins Gesicht blicken und mit fester Stimme sprechen. »Sie hat gesagt, sie wisse keine andere Lösung, denn Dwore, die Nichte ihres verstorbenen Mannes, bei der sie jetzt lebt, hat selbst mehr Kinder, als sie satt bekommen kann, deshalb hat sie gesagt, geht nach Prag, zu eurem Großonkel, dem Rabbi Juda Lejbben Bezalel, so hat sie zu uns gesagt …«
    I ch stockte. Ich hatte immer unsicherer gesprochen, das hatte ich selbst gemerkt, und ich wusste auch, woran es lag. Beim Sprechen hatten mich Zweifel gepackt, ob wir diesen langen Weg und die ganze Mühsal vielleicht vergeblich auf uns genommen hatten. Was hatte Tante Schejndl so sicher gemacht, dass dieser Mann uns aufnehmen würde? Schon begann ich mir vorzustellen, wie wir den ganzen Weg zurück nach Mo ř ina gehen müssten.
    Der Mann schaute uns immer noch an. Ich legte meine Hand auf Rocheles Schulter und spürte, dass sie zitterte. Unauffällig schob ich die Finger unter ihre Haare und streichelte ihren Nacken, der so dünn war wie der eines Vögelchens.
    W ie alt bist du?«, fragte der Rabbi. »Bald sechzehn«, sagte der Junge. »An Simchat Tora* werden es drei Jahre sein, dass ich Bar Mizwa* wurde.«
    »Eine doppelte Freude für deinen Vater«, sagte der Rabbi. »Du bist also schon ein Bocher*, aber du siehst immer noch aus wie ein Jeled*.«
    I ch schwieg gekränkt. Was hätte ich auch sagen können? Ich wusste ja, dass ich nicht besonders groß und auch nicht sehr kräftig war. Damals war ich es jedenfalls noch nicht. Aber ich bemühte mich, meinen Ärger zu verbergen. Der alte Mann erhob sich. Groß und breit stand er vor uns, und ich verstand, warum man ihn den »Hohen Rabbi« nannte.
    K ommt mit«, sagte der Rabbi. Die beiden Talmudschüler, die während der ganzen Zeit schweigend neben der Tür gestanden hatten, leuchteten ihnen die Treppe hinunter. Das Mädchen ließ die Hand des Jungen nicht los. Der Rabbi öffnete eine Tür
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