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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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nahm sich die Stange mit den Eimern von den Schultern. »Wir sind da«, sagte er. Der Junge blickte mit einem beklommenen Gefühl an der Fassade hoch. Hinter einem Fenster im oberen Stock schimmerte ein Licht.
    Der Wasserträger klopfte an die Tür. Kurz darauf waren Schritte zu hören, hastige, kurze Schritte, auch Geflüster, dann ging die Tür auf. Zwei Männer in langen, schwarzen Mänteln standen oben auf den beiden Stufen, die zum Eingang hinaufführten. Der eine war rundlich mit einem ebenfalls rundlichen Gesicht und einem kurzen, braunen Bart, der andere dünner, noch mit dem flauschigen Bart eines Jünglings. Es waren Talmudschüler, das sah man, Anhänger des Hohen Rabbi Löw. Der Rundliche trug eine Lampe, die im Wind schwankte, als er sie vor die Tür hielt. Das Licht beleuchtete erst das Gesicht des Wasserträgers, dann sank es tiefer zu dem Jungen, der, geblendet von der plötzlichen Helligkeit, erschrocken die Augen zukniff.
    »Was wollt ihr so spät noch?«, fragte der Rundliche abweisend. »Der Rabbi studiert die heiligen Bücher und darf nicht gestört werden. Kommt morgen wieder.«
    Der Wasserträger schob den Jungen und das Mädchen einen Schritt nach vorn. »Friede sei mit euch«, sagte er. »Diese Kinder hier wollen zum Hohen Rabbi, sie sagen, er sei ihr Onkel.«
    Die beiden Talmudschüler schauten sich an und zogen fragend die Augenbrauen hoch, sodass sie sich auf ihren weißen Stirnen wölbten wie die Flügel von Raben am Himmel. Der mit der Lampe zuckte mit den Schultern und nickte. Der andere wühlte in seiner Manteltasche, kam die Stufen herab und drückte dem Wasserträger ein paar Münzen in die Hand. Der Mann verbeugte sich mehrmals, murmelte ein paar Segenssprüche, hob sich die Stange mit den Eimern wieder auf die Schultern und war gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden.
    Der Rundliche zog die Kinder an den Händen ins Haus, der andere machte die schwere Tür zu.
    Sie standen in einem dunklen Flur, in dem es nach Essen roch, ein vertrauter Geruch, ohne dass die Kinder ihn hätten bestimmen können. Es war, als hätten alle Gerichte, die je in diesem Haus gegessen worden waren, etwas von ihrem speziellen Geruch zurückgelassen. Hinter einer Tür waren Frauenstimmen zu hören. Der Rundliche ging voraus und führte die Kinder eine steile, enge Treppe hinauf. Dort öffnete er eine Tür, durch deren Spalt ein schwacher Lichtschein fiel, und schob die Kinder über die Schwelle. Der Junge und das Mädchen hielten sich an den Händen, die beiden Talmudschüler blieben an der Tür stehen.
    I ch erinnere mich auch noch genau, wie es war, als wir zum ersten Mal das Zimmer unseres Großonkels betraten, des Hohen Rabbi Löw. Ein weiser Mann, hatte Tante Schejndl gesagt, ein Wunderrabbi, dessen Ruf sich in alle Windrichtungen verbreitet hat. Ich blieb wie erstarrt stehen, denn plötzlich fing ich an zu frieren und meine Beine wurden weich. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre weggelaufen. Rochele schien etwas Ähnliches zu empfinden, sie versteckte sich hinter meinem Rücken und klammerte sich an meine Rockschöße.
    Aus Angst, den Mann anzuschauen, dessen Umrisse ich hinter einem großen Tisch bemerkt hatte, ließ ich die Blicke durch das Zimmer schweifen. Es war so geräumig, dass die beiden Lichtquellen, eine Kerze auf dem Tisch und die Lampe in der Hand des Talmudschülers, der mit dem anderen an der Tür stehen geblieben war, nicht ausreichten, es zu erhellen, in den Ecken ballten sich dunkle Schatten bis hinauf zur Decke. An den Wänden standen Borde mit Büchern, auch auf dem Tisch lagen Bücher, wie ich mit einem raschen Blick feststellte. So viele Bücher auf einmal hatte ich noch nie gesehen, es waren mindestens zehnmal so viel wie jene, die mein Vater immer auf seinen Karren lud, um sie in abgelegenen jüdischen Ansiedlungen und auf Jahrmärkten zu verkaufen.
    W er seid ihr?«, fragte der Mann von der anderen Seite des großen Tisches. »Was wollt ihr?«
    Der Junge hörte, wie seine Schwester hinter seinem Rücken die Luft ausstieß, und schaute den Mann an. Das Licht fiel nur auf eine Seite seines Gesichts, die andere verschwamm in der Dunkelheit, das ließ ihn unwirklich aussehen, geisterhaft. Er war alt, sein Bart war fast weiß, auch seine Haare waren weiß, und bei diesem Licht sah es aus, als würde die schwarze Kipa* ein kreisrundes Loch in seinen Kopf schneiden. Die erhellte Gesichtshälfte war von vielen Falten und Furchen durchzogen und wurde beherrscht von
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