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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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hatten sie an einem einsam gelegenen Bauernhaus angeklopft und für Gottes Lohn um eine Scheibe Brot gebeten, aber die Bäuerin, eine dicke, hässliche Frau, hatte mit ihrem Besen gefuchtelt und das »Bettelpack«, wie sie sie nannte, mit wüten dem Geschrei weggejagt. Danach waren sie an keinem Hof mehr vorbeigekommen.
    Der eine Apfel machte sie nicht satt, hungrig gingen sie weiter. Das Mädchen blieb vor einem Hökerweib mit grauen Zottelhaaren stehen, das Pflaumenmuskuchen verkaufte, und streckte bittend die Hand aus. Aber die Frau musste ein Herz aus Stein haben, sie schüttelte den Kopf, und als das Mädchen noch einen Schritt auf sie zumachte, fing sie an zu keifen und hob die Hand, als wolle sie das Kind verscheuchen, wie sie die Fliegen verscheuchte, die von ihrem Pflaumenmuskuchen angelockt wurden.
    Der Junge zog seine Schwester schnell von ihr fort. Unschlüssig schaute er sich um. Er hatte keine Ahnung, welchen Weg sie einschlagen mussten, wagte aber nicht, diese fremden, städtischen Menschen anzusprechen, die alle so geschäftig taten, er fürchtete Beschimpfungen und Flüche. Schließlich nahm er seinen ganzen Mut zusammen und fragte einen Fuhrmann, der Holzscheite von seinem Wagen lud und am Straßenrand zu einem Stapel aufschichtete, nach dem Weg zur Judenstadt.
    Der Mann betrachtete ihn abschätzig und spuckte auf den Boden, dann streckte er die Hand aus und sagte: »Dort durch das Torhaus und über die steinerne Brücke, danach müsst ihr euch links halten, ihr könnt es nicht verfehlen.« An seiner ausgestreckten Hand fehlten zwei Finger.
    Die Kinder schlugen die angegebene Richtung ein und fanden das Torhaus und die Brücke. Sie war aus Stein und so lang wie in ihrem Heimatort die Hauptstraße der Christen, und sie war viel, viel breiter. Das Mädchen zog die Schultern hoch und drängte sich ängstlich an ihren Bruder, folgte ihm jedoch, ohne zu widersprechen. Anfangs trippelte sie ganz dicht an seiner Seite, doch dann siegte ihre Neugier, und er musste sie immer wieder hochheben, damit sie über die Steinmauer hinunter auf den Fluss schauen konnte. Das Wasser war tief unter ihnen und fast schwarz, die Boote und Flöße waren kaum mehr zu erkennen. Über dem Fluss kreis ten Möwen und erfüllten mit ihren Schreien die Luft.
    Als sie am anderen Ende der Brücke angekommen waren, senkte sich die Dämmerung über die schmalen Straßen. Sie hielten sich linker Hand, wie der Fuhrmann gesagt hatte, gingen durch eine krumme Gasse und erreichten ihr Ziel.
    Sie erkannten die Judenstadt sofort, nicht nur daran, dass die Männer Bärte und Schläfenlocken trugen, wie es das Gesetz befiehlt. Sie erkannten sie an den Menschen mit ihren vertrauten Gesichtern, sie erkannten sie an der vertrauten Kleidung, den Hüten und den langen Mänteln der Männer und den Kopftüchern der Frauen, an den Talmudschülern*, die, Bücher in den Händen, mit gesenkten Köpfen an ihnen vorbeieilten, offenbar auf dem Weg zum Bethaus. Sie erkannten sie auch am vertrauten Klang der Stimmen und daran, wie Bettler im Namen des Ewigen um eine milde Gabe flehten, und an den vertrauten Gerüchen nach Zwiebeln und Knoblauch, nach gekochtem Kohl und in Öl gebackenen Teigtaschen.
    A ls wir die Judenstadt betraten, zog ich meine Schläfen locken, die ich unterwegs hinter den Ohren versteckt hatte, hervor, denn jetzt sollte mir jeder ansehen, dass ich ein Jude war. Ich glaube, wir hatten beide das Gefühl, als wären wir nach diesen schrecklichen Tagen und noch schrecklicheren Nächten nach Hause gekommen. Doch etwas war seltsam: Keiner schaute uns an, obwohl wir doch fremd waren, keiner fragte, woher wir kamen und wohin wir gingen, keiner erflehte den Segen des Ewigen, gelobt sei er, auf uns herab und wünschte uns Frieden, und keiner erkundigte sich, ob wir Hunger hatten, oder bot uns wenigstens einen Schluck Wasser an.
    Bei uns in Mo ř ina wurde jeder Fremde freundlich begrüßt, man fragte ihn nach dem Woher und Wohin, und selbstverständlich bot man ihm etwas zu essen an, auch wenn man selbst nur wenig hatte. Sogar Tante Schejndl, die seit dem frühen Tod ihres Mannes ihren Lebensunterhalt als Dienstmagd im Haus eines hohen Herrn verdiente, hätte nicht gezögert, einen Fremden einzuladen und ihr bescheidenes Mahl mit ihm zu teilen.
    Aber die Leute hier taten, als gäbe es uns nicht oder als würden sie uns Tag für Tag sehen, so wie ihre eigenen Kinder oder die Kinder ihrer Nachbarn. Oder wie die eines stadtbekannten Bettlers, dachte
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