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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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nachdenklich den Jungen, der dem Blick seines Onkels auswich. Er presste unter dem Tisch die Knie zusammen, um seinen Körper zur Ruhe zu zwingen, und schob, nur um etwas zu tun, eine heruntergefallene Erbse über den Tisch hinüber zu Rochele, die sie mit spitzen Fingern ergriff, betrachtete und in den Topf warf. »Dein Vorschlag gefällt mir, Jente«, sagte der Rabbi bedächtig. »Er zeugt von Vernunft und Einsicht. Mendel ist ein gottesfürchtiger Mann, ich glaube, er behandelt seine Gehilfen gut und gerecht. Ist nicht auch ein Sohn deiner Schwester Riwke bei ihm?«
    »Ja«, sagte Jente. »Schmulik arbeitet schon seit zwei Jahren bei Mendel, und der hat ihm, soviel ich weiß, noch nie ein böses Wort gegeben, geschweige denn, dass er ihn geschlagen hätte. Es ist eine gute, gottgefällige Arbeit.« Sie nickte dem Jungen aufmunternd zu.
    Der Hohe Rabbi erhob sich. »Also gut«, sagte er. »Ich gehe jetzt mit Schimon hinüber zum Lehrhaus. Auf dem Rückweg will ich beim Bäcker vorbeischauen und die Angelegenheit mit ihm besprechen.« Er streckte die Hand aus und legte sie auf die Schulter des Jungen. »Bist du damit einverstanden?«
    Jankel zuckte zusammen, doch er nickte und der Hohe Rabbi verließ mit seinem Schüler die Küche.
    N atürlich hatte ich die jüdische Schule besucht und die heilige Sprache lesen gelernt, doch mit dem Verstehen war ich nicht sehr weit gekommen. Die anderen Jungen bei uns allerdings auch nicht. Unser Lehrer war damit zufrieden, dass wir mehr schlecht als recht die Gebete lesen konnten, auch wenn es langsam ging und manche es nur sehr stotternd und stolpernd zuwege brachten. Man muss nicht alles verstehen, sagte er, wichtig ist nur, man fürchtet den Herrn und befolgt seine Gebote. Und mein Vater sagte immer, um Bücher zu verkaufen, brauche man sie nicht unbedingt lesen zu können. Arme Leute wie wir könnten ihre Söhne nicht zu Gelehrten erziehen. »Höre, Jankel«, hatte er einmal gesagt, »so steht es geschrieben: Jener, dessen Weisheit größer ist als seine Taten, wem gleicht er? Einem Baum, dessen Zweige viel und dessen Wurzeln wenig sind, ein Windstoß kommt und entwurzelt ihn und stürzt ihn auf seine Krone. Doch jener, dessen Taten viele sind, wem gleicht er? Einem Baum, dessen Zweige wenig und dessen Wurzeln viel sind, sodass sogar alle Winde der Welt ihn nicht von seinem Platz bewegen können. «
    Ich hatte oft über diese Worte meines Vaters nachgedacht und mir vorgestellt, welcher Art die Taten wohl sein würden, die ich vollbringen könnte. Die Arbeit bei einem Bäcker war mir dabei nie in den Sinn gekommen. Vermutlich ging es bei den »Taten« auch nicht um der Hände Arbeit, sondern um Mizwot*, die guten und mildtätigen Werke.
    N achdem der Rabbi gegangen war, sagte die alte Tante, Jente solle das Mädchen gleich zu ihrer Tochter Frume bringen, die habe bestimmt auch ein paar saubere Kleidungsstücke für die Kleine. »Vielleicht hat sie ja auch etwas Passendes für den Jungen«, sagte sie. »Er braucht dringend etwas anderes zum Anziehen, damit wir seine Sachen waschen und flicken können.«
    Jankel betrachtete das schmutzige, zerrissene Kleid seiner Schwester. Obwohl Jente die Kleine noch gestern Abend gründlich gewaschen hatte und ihr Gesicht und ihre Hände sauber waren, machte sie einen armseligen Eindruck, und er wusste, dass er selbst auch nicht besser aussah. »Das liegt nur an dem langen Weg von Mo ř ina hierher«, sagte er verlegen. »Als wir von zu Hause weggingen, haben wir ordentlich ausgesehen. Unsere Tante Schejndl, sie möge leben und gesund sein, hat immer darauf geachtet, dass wir reinlich gekleidet waren.«
    »Das weiß ich doch«, sagte die Tante freundlich. »Ich mache niemandem einen Vorwurf, weder eurer Tante noch euch. Aber ihr braucht saubere Kleidung, das siehst du doch ein, nicht wahr? Wir haben hier nichts, was euch passen könnte, Frume mit ihren fünf Kindern kann sich da leichter behelfen.«
    So kam es, dass Jankel einige Zeit später Jente und seine Schwester zum Haus Jizchaks begleitete, des Toraschreibers* und Schwiegersohns von Rabbi Löw. Die Geschwister waren anfangs noch still und bedrückt, doch das rege Leben, das besonders in der Breiten Gasse herrschte, weckte ihre Neugier, nun, da sie bei Tageslicht alles genau sehen konnten: Straßenhändler, die ihre Waren vor sich ausgebreitet hatten, Bauersfrauen mit Körben voller Eier und Feldfrüchten. Aus den Garküchen drang der Geruch nach heißem Öl und in den Gewölben gingen
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