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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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Spital für Arme und Kranke eingerichtet und die prächtige, nach ihm benannte Synagoge erbauen lassen, von der alle behaupteten, sie habe mehr als zehntausend Taler gekostet.
    Dann kamen sie an einem anderen schönen Gebäude vorbei. »Das ist das Lehrhaus«, sagte Jente. »Aus der ganzen Welt kommen Juden hierher, um bei unserem Hohen Rabbi zu studieren, sein Ruhm geht weit über die Grenzen Böhmens hinaus, man nennt ihn den Maharal* von Prag.« Ihrer Stimme war der Stolz anzuhören, bei einem so berühmten Mann in Diensten zu sein. Sie streckte die Hand aus. »Und dort hinten, fast an der Ecke, wohnen Jizchak, der Toraschreiber, und seine Frau Frume, die Tochter des Hohen Rabbis.«
    Sie gingen durch einen dunklen Torbogen und erreichten einen Hof, der sehr groß war, eher ein Platz mit mehreren kleinen Häusern, die sich aneinanderlehnten, als könnten sie allein nicht die Last ihres Alters tragen. Die Kinder blieben erstaunt stehen. Hier sah es plötzlich so aus wie bei ihnen zu Hause in Mo ř ina, es gab sogar ein paar Beete mit Gemüse, es gab Wäscheleinen, an denen sich Kleidungsstücke im Wind bewegten, spielende Kinder und Frauen, die sich von einem Fenster zum anderen miteinander unterhielten. Eine Katze kauerte mit rundem Rücken und gerecktem Schwanz vor einem Mauseloch, und in einem Baum, der seine mageren Äste zum Himmel reckte, als wolle er beten, sang ein Vo gel. Fast war es, als gäbe es die lärmende Judenstadt nicht mehr, als wäre sie hinter ihnen im Erdboden verschwunden.
    Jente ging auf eines der Häuser zu. Es war nicht größer als die anderen, etwas schief und so alt, dass das Holz von Wind und Wetter schwarz und rissig geworden war. Eine schmale Treppe führte an der Seite nach oben, an der anderen Seite waren ein Bretterschuppen und ein Stall angebaut. Davor, auf einem eingepferchten Stück Boden, scharrten ein paar Hühner im Sand und aus dem Stall klang das Meckern einer Ziege. Vor dem Haus, auf einem Gestell, stand ein Waschzuber, über den sich eine Frau beugte und ein Laken mit den Fingerknöcheln rieb, um den Schmutz zu entfernen. Neben ihr saß ein kleiner Junge, der höchstens ein Jahr alt sein konnte, auf dem Boden, riss Grashalme aus und stopfte sie sich mit seinen Fäustchen in den Mund.
    Rochele ging immer langsamer. Jetzt blieb sie stehen. »Ich will nicht«, sagte sie und stemmte sich mit beiden Füßen gegen den Boden, »ich will mit Jankel zusammenbleiben.« Sie sah so unglücklich aus, dass Jankel sie am liebsten gekitzelt hätte, so wie früher, bis sie schließlich doch anfangen würde zu lachen, aber vor diesen fremden Menschen traute er sich nicht. Jente ließ Rocheles Hand nicht los und zog sie hinter sich her. »Friede sei mit dir und deinem Haus, Frume«, sagte sie laut. »Deine Mutter schickt mich, sie lässt dich grüßen.«
    Die Frau richtete sich auf. Jetzt war zu erkennen, dass sie eine sehr große, kräftige Gestalt besaß, und auch, dass sie gesegneten Leibes war. Sie lächelte den Ankömmlingen entgegen, ein breites, offenes Lächeln. Sie bückte sich und zog dem Jungen die Grashalme aus den Fäustchen. Jente sagte, dass ihre Mutter sie bitte, das Mädchen aufzunehmen. »Unser Haus eignet sich nicht für ein kleines Kind, schon wegen Josef«, sagte sie.
    »Natürlich nehme ich die Kleine auf«, rief Frume mit einer lauten, überschwänglichen Stimme. »Es ist eine Mizwa, sich um ein mutterloses Kind zu kümmern, man muss dem Ewigen dankbar sein, wenn er einem solch eine Gelegenheit schenkt. Sie kann ein Kleidchen von meiner Rejsele bekommen und für den Jungen habe ich eine Hose und eine Joppe von Schajke. Die Sachen sind ihm vielleicht noch etwas zu groß, aber es wird schon gehen. Und außerdem wird er noch wachsen, so der Ewige will.«
    Amen, dachte Jankel, denn wachsen wollte er. Aus Zwergen wurden höchstens Fiedler oder Possenreißer. Gaukler, denen das Salz zum Brot fehlte.
    Frume reckte sich, schob die Schultern nach hinten, stöhnte und legte die Hände auf ihren gewölbten Leib. »Es fällt mir sehr schwer diesmal, ich wünschte, es wäre schon so weit«, sagte sie, und Jente sagte: »Möge es zu einer guten Stunde sein.«
    Frume beugte sich zu Rochele, die sich, erschreckt von der mächtigen Gestalt und der lauten Stimme der Frau, ängstlich an Jankel klammerte. »Na, komm«, sagte Frume, aber die Kleine schüttelte den Kopf und vergrub das Gesicht in der schmutzigen Jacke ihres Bruders. Der kleine Junge hatte aufgehört, Grashalme auszureißen,
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