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Ausländer

Ausländer

Titel: Ausländer
Autoren: Baumhaus
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Kapitel eins
    Warschau
2. August 1941
    Piotr Bruck zitterte vor Kälte, während er mit etwa zwanzig anderen nackten Jungen in dem langen, zugigen Korridor wartete. Er hatte seine Kleider zu einem Bündel zusammengeknüllt, das er gegen seine Brust presste, um sich ein wenig Wärme zu verschaffen. Es war ein bewölkter Spätsommertag, und seit dem Morgengrauen regnete es. Piotr sah, dass der Junge vor ihm Gänsehaut auf seinen knochigen Schultern hatte. Der Junge zitterte ebenfalls, vielleicht vor Kälte, vielleicht auch vor Angst. Zwei Männer in gestärkten weißen Kitteln saßen vor der Warteschlange an einem Tisch. Sie untersuchten die Jungen der Reihe nach flüchtig mit seltsam aussehenden Instrumenten. Manche Jungen wurden in ein Zimmer links vom Tisch geschickt, andere wurden barsch in den Raum zur Rechten verwiesen.
    Piotr und die anderen Jungen hatten strikte Anweisung erhalten, nicht zu sprechen und sich nicht umzusehen. Daher konzentrierte er sich zwanghaft darauf, starr geradeaus zu blicken. Piotr war so von Angst erfüllt, dass ihm sein eigener Körper fast fremd vorkam. Jede seiner Bewegungen erschien ihm unnatürlich und gezwungen. Ganz und gar real war nur der Druck in seiner Blase, den er kaum mehr aushielt. Piotr wusste, dass es keinen Sinn hatte, um Erlaubnis zum Austreten zu bitten.Als die Soldaten ins Waisenhaus gestürmt waren, um die Jungen aus den Betten auf einen bereits wartenden Lastwagen zu scheuchen, hatte er gefragt, ob er auf die Toilette gehen dürfe. Zur Antwort bekam er eine Ohrfeige, weil er unaufgefordert gesprochen hatte.
    Zwei Wochen zuvor waren die Soldaten zum ersten Mal ins Waisenhaus gekommen. Und danach noch mehrmals. Manchmal nahmen sie Jungen mit, manchmal Mädchen. Einige der Jungen in Piotrs überfülltem Schlafsaal waren froh gewesen, dass andere abgeholt wurden. »Mehr Essen für uns und auch mehr Platz – also, worüber beschwert ihr euch?«, meinte einer. Nur wenige der Kinder kamen zurück. Diejenigen, die überhaupt darüber sprechen wollten, was geschehen war, murmelten etwas davon, dass sie fotografiert und gemessen worden seien.
    Jetzt, da Piotr vorne im Korridor stand, sah er sich mehreren Soldaten in schwarzer Uniform gegenüber. Uniformen mit Abzeichen auf den Kragen, die an Blitze erinnerten. Einige Soldaten hatten Hunde – grimmige Schäferhunde, die unablässig an ihren Leinen zerrten. Piotr war schon früher solchen Männern begegnet. Sie hatten während der Kämpfe sein Dorf heimgesucht. Er hatte aus nächster Nähe erlebt, wozu sie fähig waren.
    Und da war noch ein weiterer Mann, der sie beobachtete. Er trug dasselbe, einem doppelten Blitz ähnelnde Abzeichen wie die Soldaten, aber bei ihm prangte es auffällig groß auf der Brusttasche seines weißen Kittels. Er stand nicht weit von Piotr entfernt, hochgewachsen und gebieterisch, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und beaufsichtigte dieses rätselhafte Treiben. Als er sich umdrehte, sah Piotr, dass er eine kurze lederneReitgerte in der Hand hielt. Sein dunkles Haar war strähnig, doch wie bei den Deutschen üblich seitlich gute sieben oder acht Zentimeter über den Ohren abrasiert.
    Der Mann betrachtete die Jungen durch seine schwarz geränderte Brille. Während sein Blick die Reihe entlangwanderte, nickte er oder schüttelte den Kopf. Die meisten Jungen, fiel Piotr auf, waren blond wie er selbst, nur ein paar hatten dunkleres Haar.
    Der Mann hatte die selbstsichere Ausstrahlung eines Arztes, erinnerte Piotr aber trotzdem viel eher an einen Bauern, der seine Schweine begutachtet und überlegt, welches auf dem Dorfmarkt den besten Preis erzielen könnte. Als der Mann bemerkte, dass Piotr ihn ansah, stieß er zwischen den schmalen Lippen einen Laut der Verärgerung hervor und gab ihm mit einer energischen Bewegung des Zeigefingers zu verstehen, dass er nach vorne blicken sollte.
    Jetzt war Piotr nur noch drei Stationen vom Tisch entfernt und konnte Bruchstücke der Unterhaltung zwischen den beiden Männern dort aufschnappen. »Warum hat man den hierhergebracht?« Und dann, lauter, zu dem Jungen vor ihm: »Nach rechts, aber dalli, bevor du meinen Stiefel in den Arsch kriegst.«
    Piotr bewegte sich langsam vorwärts. Nun sah er, dass der Raum rechts in einen weiteren Korridor und zu einer offen stehenden Tür führte, durch die man ins Freie kam. Kein Wunder, dass es so zog. Draußen stand ein mit einer Plane abgedeckter Wagen, unter der Piotr finster dreinblickende junge Gesichter und Wachen
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