Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goldfalke (German Edition)

Goldfalke (German Edition)

Titel: Goldfalke (German Edition)
Autoren: Noreen Aidan
Vom Netzwerk:
wurden. Mustafa ließ sich von Kiana mitziehen, sichtlich erschlagen von dem neuen Leben, das sie ihm aufgenötigt hatte.
    Als sie den Hügel hochstiegen, wo sich eine Lehmhütte an die andere reihte, wurde Kiana bewusst, dass sie all das seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder ohne Gesichtsschleier wahrnahm. Fast fühlte sie sich wie das Kind, das sie einst gewesen war, dessen Sicht noch unvergittert die vielen Eindrücke der Welt in sich aufsaugen und in wilde Tagträume umsetzen konnte. Bevor Tante Shabnam diese Träume mit einer Burka und einem Berg von Drohungen erstickt hatte. Drohungen von Onkel Abdullahs rascher Vergeltung und Gottes ewiger Grausamkeit. Mit jedem Schritt wuchs der Zorn in Kiana.
    Unterdessen versuchte Amir, Mustafa nicht nur Nesrins Anwesenheit zu erklären, sondern ihm in groben Zügen von seinen Erlebnissen der letzten Tage zu erzählen, was außerhalb der Klaren Welt bestimmt keiner verstehen konnte. Und so teilnahmslos, wie Mustafa neben ihnen hertrottete, nahm er sowieso nichts wahr. Sein Überleben schien ihn zu überfordern. Nur vorübergehend, zwang sich Kiana zu denken. Sicher nur vorübergehend.
    Am Haus ihres Onkels angelangt schob Kiana ihren Cousin durch die Küchentür und drehte sich nach Amir und Nesrin um. „Ich brauche nicht lange.“
    Ami r schaute zu seinem Elternhaus hinüber. „Ich suche meinen Vater und helfe ihm packen. Wir treffen uns dann hier am Brunnen.“
    Obwohl sich Kiana nicht vorstellen konnte, dass Sami Hasan - g enau wie sie - etwa besaß, was es wert war, gepackt und mitgenommen zu werden, stimmte sie zu.
    Unentschlossen machte Nesrin einen Schritt auf Kiana, dann auf Amir, dann wieder auf Kiana zu. Die Neugier trieb sie in beide Richtungen zugleich.
    „Ich würde mich freuen, dich meinem Vater vorzustellen“, sagte Amir plötzlich zu ihr. Überrumpelt von dieser unerwartet netten Einladung folgte Nesrin ihm in sein Elternhaus.
    „Wie seht ihr denn aus?!?“ Madina schlug die Hä nde vor den verschleierten Mund. „Dein Hemd, Mustafa! Und Kiana, deine Kleider! Wo hast du die gestohlen? Zieht euch schnell um, bevor Mutter euch entdeckt!“
    Mustafa fügte sich dieser Warnung und steuerte die Treppe nach oben an, doch Kiana stieß ihn gegen die angelehnte Tür zum Wohnzimmer. Diese schwang auf, und Mustafa stolperte hindurch. Kiana folgte ihm.
    Jegliches Gespräch verstummte. Überdeutlich hörte man das Blubbern des kochenden Wassers in der Küche, das Madina nun eigentlich in die Spülschüssel kippen sollte. Aber Kiana wusste genau, dass nichts auf der Welt ihre Cousine von ihrem Lauschplatz seitlich der Tür wegbringen konnte.
    Tante Shabnam fa sste sich als erste. Zwar wusste sie, dass sie sich als Frau in einer Männerrunde besser im Hintergrund gehalten hätte, doch das verblüffte Schweigen ihres Gatten und die Ungeheuerlichkeit von Mustafas zerfetztem und Kianas unverschleiertem Anblick zwang sie zum Handeln. „Raus!“, zischte sie. „Und kommt erst zurück, wenn ihr beide anständig gekleidet seid!“ Dass sie später mit Kiana, der sie sicher die ganze Schuld an dieser Peinlichkeit gab, ordentlich abrechnen würde, schwang hörbar in Tante Shabnams Stimme mit.
    Doch Kianas Zorn hatte längst die Verängstigung ihrer Kindheit übersprungen. Zur sichtl ichen Entgeisterung aller antwortete sie: „Gerade eben wollte sich dein Sohn in die Luft sprengen, Tante. Ich denke, dass anständige Kleidung sein geringstes Problem ist.“
    Jetzt fand auch Onkel Abdullah seine Sprache wieder: „Was?“
    „Die heiligen Krieger “, Kiana spuckte diese Worte aus, „zu denen du deinen Sohn voller Stolz geschickt hast, Onkel, wollten ihn in den Tod schicken, um in die Nachrichten zu kommen und so ihre Machtstellung bei den anderen heiligen Kriegern anzuheben. Und Mustafa, der Idiot, ist so ausgehungert nach Anerkennung, die er von dir nie erhalten hat, Onkel, dass er sich davon hat einlullen lassen. Hättest du ihn nicht ständig niedergemacht, sondern ab und zu mal seine guten Vorschläge angehört, dann hättest du nicht alle deine Geschäftsideen in den Sand gesetzt. Und damit all das Geld, das du vom Vermögen meiner Eltern für meine Ausbildung erhalten hast.“
    Kiana konnte kaum glauben, was da alles aus ihr herausquoll. Es war, als hätte Mustafas Be inahetod eine Barriere zerbrochen, die nun alles ungehindert durchließ, was sich all die Jahre über, all die Beschimpfungen über, all die Bestrafungen über in ihr angestaut hatte. Sie kannte sich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher