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Goettersterben

Titel: Goettersterben
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Andrej Abbitte, weil er Abu Dun gestern Übereifer vorgeworfen hatte, und bedankte sich stattdessen bei seinem Freund. Hätte Abu Dun nicht so hartnäckig darauf bestanden, sein Gesicht zu verbinden, dann hätten die Wachen am Tor sie ganz gewiss nicht eingelassen, sondern vermutlich ohne zu Zögern auf sie geschossen. Dieses Land befand sich seit Jahren im Krieg, und wenn es irgendetwas gab, was seine Bewohner noch mehr fürchteten als einen unerwarteten Überfall oder feindliche Spione, so waren es Krankheiten. Sein Gesicht sah aus, als hätte er die Lepra oder etwas noch Schlimmeres … und jetzt, einmal darauf aufmerksam geworden, spürte Andrej auch, dass er auch ganz genauso roch. Vielleicht war es nicht nur der Gestank nach verschimmeltem Heu, der in seiner Kehle würgte.
Lange saß Andrej so auf den Knien und starrte sein eigenes Spiegelbild an. Das Wasser beruhigte sich zusehends, und sein eigenes Abbild wurde klarer, verlor dabei aber nichts von seinem Schrecken. Schließlich raffte er all seinen Mut zusammen, tauchte beide Hände in den Eimer und schöpfte sich, ungeachtet der Schmerzen, das eiskalte Wasser ins Gesicht. Die Tropfen, die in den Eimer zurückfielen, waren schmutzig von Blut und Eiter. Immerhin war er es gewohnt, Schmerzen klaglos zu ertragen, und so biss er nur die Zähne zusammen und wusch sich nicht nur gründlich das Gesicht, sondern säuberte auch die Wunde, so gut er es ohne Spiegel oder Hilfe konnte. Nachdem er sich das Wasser aus den Augen gewischt hatte, konnte er sogar wieder sehen, wenn auch immer noch nicht klar, und selbst diese kleine Anstrengung führte dazu, dass sein Auge wieder zu tränen begann. Angewidert betrachtete er den schwarzen Stoffstreifen, den Abu Dun um seinen Kopf gewickelt hatte. Der Gestank stieg ihm jetzt so deutlich in die Nase, dass er beinahe würgen musste. Es war ein Geruch, den er nur zu gut kannte: der Geruch des Schlachtfeldes. Der Gestank des Todes, den er in zahllosen Lazaretten und Siechenhäusern wahrgenommen hatte. Das Tuch stank nach Wundbrand – abgesehen vielleicht von einem Mann mit einem Schwert (oder einer Muskete) in der Hand der schlimmste Feind eines jeden Soldaten.
Aber das war vollkommen unmöglich. So wenig, wie er vergiftet oder mit einer Krankheit infiziert werden konnte, die die Leben der Menschen bedrohten, konnte er Wundbrand erleiden. Wäre es so, dann würde das nichts anderes bedeuten, als dass …
Andrej weigerte sich, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Er schöpfte sich nur noch eine weitere Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht, atmete ein paar Mal tief ein und aus, um die Furcht zu vertreiben, und tunkte schließlich das Tuch in den Eimer, um es gründlich auszuwaschen. Das eisige Wasser ließ seine Fingerspitzen taub werden, und kribbelnde Lähmung kroch langsam in den Händen bis in die Unterarme hinauf. Verwirrt nahm Andrej die Arme hoch, betrachtete seine Finger und stellte fest, dass ein eingerissener Fingernagel zwar aufgehört hatte zu bluten, aber noch längst nicht verheilt, geschweige denn nachgewachsen war. Was bedeutete das? Hatte er seine Unverwundbarkeit verloren? Statt weiter nach einer Antwort zu suchen, wrang er das schwarze Tuch so gründlich aus, wie er konnte, und wickelte es sich dann wieder um den Kopf. Andrej zupfte und schob den Verband zurecht und beugte sich dann noch einmal über den Wassereimer, um sein Werk zu begutachten.
Alles, was er sah, war die Spiegelung eines hohlwangigen Totenkopfs, der fast zur Hälfte unter einem nassen Tuch verborgen war – und die Umrisse einer zweiten, dunklen Gestalt, die hinter ihm stand. Andrej fuhr so schnell in die Höhe und herum, dass er in kampfbereiter Haltung und mit gezogenem Schwert dastand, noch bevor der Eimer, den er in seiner Hast umgestoßen hatte, seinen Inhalt über den Boden ergossen hatte. Gunjir in seiner Hand schrie tief in seiner Seele nach Blut, so wie immer, wenn er die Waffe aus ihrer ledernen Umhüllung zog, und Schmerz und Schwäche waren augenblicklich vergessen.
Aber hinter ihm war niemand.
Andrej ließ sich nicht die Zeit, um diese – unerhörte – Erkenntnis ganz in sein Bewusstsein sickern zu lassen, sondern wirbelte in einer halben Drehung nach links und im gleichen Augenblick nach rechts und dann abermals herum, um einem potenziellen Angreifer keine Gelegenheit zu geben, sich etwa von hinten auf ihn zu stürzen, alles in einer einzigen, geschmeidigen Bewegung, so schnell, dass ihr kein menschliches Auge hätte folgen können.
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