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Goettersterben

Titel: Goettersterben
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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vielleicht vergiftet gewesen?
Sofort verwarf Andrej diesen Gedanken mit einem überzeugten Nein . Geschöpfe wie die, in die Abu Dun und er sich verwandelt hatten, konnten nicht vergiftet werden.
Andrej sah ein, dass er dieses Rätsel jetzt nicht lösen würde, und stemmte sich behutsam zuerst auf die Knie, dann ganz hoch. Aufmerksam sah er sich um. Der Geruch der Fäulnis des auf dem Boden liegenden Strohs würde für die nächsten Wochen in seinen Kleidern haften, und die Bretterwand verdiente ihren Namen kaum, denn sie bestand mehr aus Ritzen und Spalten als aus Holz. Die schmale Tür, durch die sie hereingekommen waren, hatte keinen Riegel, und er konnte sowohl den Geruch als auch die gereizte Unwilligkeit der zwei Dutzend Pferde durch das dünne Holz hindurch wahrnehmen, die in dem engen Stall dahinter zusammengepfercht waren. Einen Moment lang lauschte er konzentriert nach Abu Dun. Der Nubier befand sich in seiner Nähe, zugleich aber auch zu weit entfernt, als dass er ihn hätte rufen oder die genaue Richtung erkennen können, in der er sich befand. Andrej runzelte die Stirn, verärgert über sich selbst. Er benahm sich wie ein Kind, das nachts in einem fremden Zimmer erwachte und nach seiner Mutter suchte. Andrej öffnete die Tür und trat in den Pferdestall hinaus. Wie er erwartet hatte, war der winzige Verschlag so hoffnungslos überfüllt, dass er sich dicht an der Wand entlangschieben musste, um zum Ausgang zu gelangen. Die schwarze Stute, die er seit zwei Jahren ritt, begrüßte ihn mit einem erfreuten Schnauben, in das sich leichter Vorwurf mischte. Andrej schenkte dem treuen Tier ein um Vergebung bittendes Lächeln und hätte sich im nächsten Moment beinahe einen weiteren blauen Fleck oder gar einen Knochenbruch eingehandelt, als eines der anderen Pferde verärgert auf seine Nähe reagierte und mit den Hinterläufen austrat. Andrej drehte sich im letzten Moment zur Seite, und der beschlagene Huf zertrümmerte die morsche Bretterwand neben ihm so mühelos, als wäre sie aus Papier.
Er erlebte eine weitere, nicht unbedingt angenehme Überraschung, als er aus dem Stall heraus und in den winzigen, von fensterlosen, schmutzigen Mauern gerahmten Innenhof trat. Die Sonne stand deutlich höher am Himmel, als er angenommen hatte; es war nicht früher Morgen, sondern früher Vormittag. Er hatte verschlafen, und das geschah so selten und war so ganz und gar nicht seine Gewohnheit, dass er sich erneut die Frage stellte, ob es an seinen Verletzungen liegen mochte, die so langsam heilten. Immerhin konnte er sich nun erklären, warum er sich trotz allem so ausgeruht und erfrischt fühlte.
Nun erspürte er auch die Richtung, in der er Abu Dun zu suchen hatte: eine schmale Tür in einer der schmuddeligen Wände, hinter der sich der Schankraum der Gaststube verbarg, die ebenso schäbig wie ihr Name hochtrabend war. Instinktiv wandte er sich dorthin, besann sich dann aber eines Besseren und trat noch einmal in den überfüllten Pferdestall zurück, um sich suchend umzusehen. Nach einem Moment gewahrte er einen ledernen Wassereimer, der noch zu einem guten Drittel gefüllt war, trug ihn ins Freie – was ihm ein unwilliges Schnauben und Zähnefletschen des vierbeinigen Besitzers des Eimers eintrug, der sich seinen Inhalt anscheinend für später aufgespart hatte – und ließ sich davor auf ein Knie sinken, nachdem er ihn zu Boden gestellt hatte. Andrej tastete mit steifen Fingern nach dem improvisierten Verband und versuchte, den Knoten des Turbans zu lösen, den Abu Dun – natürlich viel zu fest – angelegt hatte.
Der Stoff klebte an seiner zerschmetterten Augenhöhle, und als er ihn schließlich mit einem unwilligen Ruck (und zusammengebissenen Zähnen) abriss, spürte er, wie die Wunde aufbrach und wieder leicht zu bluten begann. Auf das Schlimmste vorbereitet, beugte Andrej sich vor und betrachtete sein eigenes Spiegelbild im Wasser. Es war trüb und hatte sich noch immer nicht vollends beruhigt, sodass er das seitenverkehrte Abbild seines Gesichts nur verzerrt erkennen konnte. So konnte er sich einreden, dass der Anblick in Wahrheit vielleicht nicht ganz so schlimm sein mochte.
Nicht, dass er diese Lüge auch nur einen Moment lang wirklich glaubte.
Sein Auge war zu- und gleichzeitig angeschwollen, und die Schläfe sah aus, als hätte ihn ein Pferd getreten; die Haut hatte sich dunkelblau und schwarz verfärbt, und der dazugehörige Bluterguss reichte fast bis zur Mitte seiner Wange hinab. Im Geiste leistete
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