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Goettersterben

Titel: Goettersterben
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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und ins Leere gestarrt hatte. Ein wenig schuldbewusst ließ er sein Pferd antraben, nur, um es unmittelbar darauf schon wieder zu zügeln. Das Tier schnaubte verärgert, und auch zwischen Abu Duns Augenbrauen entstand eine tiefe, vielsagende Falte. Der neuerliche Vorwurf, auf den Andrej wartete, kam jedoch nicht. Stattdessen sah er Sorge in den Augen des Nubiers, und das machte ihm noch mehr zu schaffen.
»Tut mir leid«, murmelte er. »Ich weiß, ich benehme mich albern, aber …«
»Das ist es nicht«, unterbrach ihn Abu Dun. Sein Pferd wieherte ebenso unwillig wie das Andrejs und es klang, als wolle es seinem Reiter recht geben.
»Was dann?«
»Das gefällt mir nicht«, antwortete Abu Dun. Er löste die rechte Hand vom Zügel und deutete auf die weiß getünchten Mauern und Dächer der Stadt hinab. Die Sonne war weiter gesunken und die Schatten waren länger und dunkler geworden, was die Farbe des Mauerwerks noch heller aufleuchten ließ. »Das ist eine Falle.«
Vermutlich hatte er recht, dachte Andrej betrübt. Gleichzeitig fragte er sich, warum er nicht auf diesen Gedanken gekommen war. Trotz allen großspurigen Geredes und seiner manchmal an den Nerven zerrenden Art, den ungebildeten Barbaren zu spielen, war Abu Dun im Grunde ein Pragmatiker und von den beiden Freunden derjenige, der nur zu oft vor Andrej die wahre Bedeutung der Dinge erkannte. Nach allem, was sie auf den Weg hierher erlebt hatten, hätten sich allenfalls ihre Pferde von dem Anblick der Stadt, in deren festen Mauern und sauber verputzten Häusern schon unter normalen Umständen Zehntausende leben mussten und die jetzt vermutlich ein Mehrfaches dieser Zahl an Menschen beherbergte, täuschen lassen dürfen. Vielleicht lag es an seiner Müdigkeit. Er schob die Hand unter den Mantel und legte sie um den Griff des gewaltigen Breitschwerts, das vor Jahren den Platz seiner geliebten Damaszenerklinge eingenommen hatte, ohne sie jemals wirklich ersetzen zu können. Doch dann zog er sie so rasch und erschrocken wieder zurück, als hätte er glühendes Eisen berührt. Auch diese Bewegung entging Abu Dun nicht, aber er reagierte auch darauf nur mit einem besorgten Stirnrunzeln.
»Er ist dort«, sagte Andrej. »Ich spüre es.«
»So wie in Göteborg?«, vermutete Abu Dun. »Oder in Hamburg? Oder in Wien? Oder Prag?«
Andrej brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Verstummen, bevor Abu Dun die Aufzählung fortführen und womöglich zu Ende bringen konnte – wofür er vermutlich länger gebraucht hätte, als die Sonne noch am Himmel stand.
»Ja«, antwortete er. »Aber diesmal ist es anders. Er ist hier. Ich weiß es. Und du weißt es auch.«
Der Nubier verzog abfällig die Lippen, aber seine Antwort klang weder spöttisch noch verärgert, sondern besorgt. »Etwas ist hier«, bestätigte er. »Das ist wahr. Aber ich bin nicht sicher, ob ich wirklich herausfinden möchte, was es ist.«
Andrej wies den Freund nicht darauf hin, dass er keineswegs darauf beharrte, dass Abu Dun ihn begleitete. Dieses Gespräch hatten sie ein einziges Mal geführt, und Abu Duns Antwort war so deutlich gewesen, dass es sinnlos gewesen wäre, diesen Vorschlag noch einmal zu wiederholen. Also zuckte er nur noch einmal (vorsichtig) mit den Schultern, blinzelte die Tränen weg, die nach wie vor den Blick seines verletzten Auges verschleierten, und gab seinem Pferd mit einem sachten Schenkeldruck die Erlaubnis, weiterzutraben. Das Tier setzte sich mit einem erfreuten Schnauben in Bewegung und auch Abu Duns riesiger weißer Hengst lief los, ohne dass sein Reiter ihn eigens dazu auffordern musste.
Sie überquerten eine schmale, aber sehr lang gestreckte und so präzise wie mit einem Lineal gezogene Lichtung, drangen noch einmal in den Halbschatten des Waldes ein und erreichten schon nach wenigen Minuten einen gewundenen Pfad, der weiter hangabwärts führte und schließlich in einer schmalen Straße mündete, die weder gepflastert noch auf andere Weise befestigt, aber von so vielen Hufen und Füßen festgetreten war, dass sich der Hufschlag ihrer Pferde anhörte, als ritten sie über Stein. Der Wald war hier weniger dicht als der, in dem sie sich in den vergangenen Tagen und Nächten versteckt hatten, sodass es nicht Andrejs übermenschlich scharfer Sinne bedurft hätte, um ihm zu verraten, dass sie die einzigen Menschen in weitem Umkreis waren. Die Reiter, die sie gerade beobachtet hatten, waren hier entlanggekommen; selbst jetzt hing noch der Schweißgeruch von Mensch und Tier in der
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