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Goettersterben

Titel: Goettersterben
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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freundlich von Euch, Colonel«, sagte Andrej, »aber …«
»Ich will mich nicht aufdrängen«, unterbrach ihn der Offizier. »Es ist nur so, dass die Stadt aus den Nähten platzt. Ihr werdet Mühe haben, ein Zimmer zu finden – noch dazu eines, dessen Besitzer nicht versucht, Euch zu übervorteilen. Zeiten wie diese bringen leider meist das Schlechte im Menschen zutage.«
»Zeiten wie diese?«, wiederholte Andrej.
»Ihr habt die Schiffe nicht gesehen?«
»Doch«, antwortete Andrej, »und wir haben uns gefragt …« Er brach ab und mimte den Überraschten. »Sagt es nicht! Das ist die Armada ?«, hauchte er dann.
»Zumindest ein Teil davon«, erwiderte der Weißhaarige. »Die Stadt ist voller Soldaten, Söldner und Freiwilliger, die sich der Flotte anschließen wollen. Ihr werdet kaum ein Zimmer finden – es sei denn, Ihr seid nicht allzu anspruchsvoll. Geht am Ende der Straße nach links und biegt dann zweimal rechts ab, bis Ihr zum Goldenen Eber kommt. Wenn Ihr dem Besitzer Grüße von Colonel Rodriguez ausrichtet, dann wird er vielleicht noch ein Plätzchen für Euch finden und möglicherweise sogar darauf verzichten, Euch den zehnfachen Preis für einen Krug schales Bier und einen vertrockneten Fisch abzuknöpfen.« Er lachte leise.
Andrej stimmte – ganz bewusst ein wenig unsicher – in dieses Lachen ein, gemahnte sich im Stillen aber zur Vorsicht. Er traute dem Weißhaarigen nicht und spürte ganz instinktiv, dass dieses Misstrauen auf Gegenseitigkeit beruhte.
»Dorthin werden wir gehen«, sagte er. »Vielen Dank. Und macht Euch keine Sorgen, Colonel. Abu Dun und ich werden die spanische Gastfreundschaft in guter Erinnerung behalten. Zumindest die Cádizs.«

D
    er Goldene Eber war nicht so schlimm, wie Andrej nach der Beschreibung des Colonels erwartet hatte – er war schlimmer. Das einzig Prachtvolle daran war das sorgsam gemalte und mit Blattgold verzierte Schild über dem niedrigen Eingang, unter dem selbst er sich hindurchbücken musste, um nicht mit dem Kopf anzuschlagen. Und das einzige Zimmer , das der vermeintliche Freund des Colonels ihnen anbieten konnte (für einen geradezu unverschämten Preis, von dem er mindestens ein Dutzend Mal behauptete, er würde nicht einmal seine Unkosten decken und er böte ihn ihnen nur an, weil der Colonel ein guter Freund des Neffen des Schwagers seiner Frau wäre), war ein nach faulendem Stroh und Exkrementen stinkender Verschlag hinter dem Pferdestall. Aber immerhin hatte er vier Wände und ein Dach und es war das erste Mal seit Tagen, dass sie nicht auf feuchtem Waldboden, wenngleich auf nicht minder feuchtem Stroh schlafen mussten.
    Dennoch erwachte Andrej am nächsten Morgen so ausgeruht wie schon seit langer Zeit nicht mehr, dafür aber mit hämmernden Kopfschmerzen und einem widerwärtigen Geschmack im Mund pünktlich mit dem ersten Licht der Sonne, das durch die fingerbreiten Ritzen der morschen Bretterwand drang. Das Erste, was ihm auffiel, war, dass er allein war. Abu Dun war nicht bei ihm, und doch konnte Andrej seine Nähe spüren; eine sachte Präsenz, kaum fühlbar. Vielleicht war er nur hinausgegangen, um sich umzusehen oder einem körperlichen Bedürfnis nachzukommen, dem sich von Zeit zu Zeit sogar Unsterbliche beugen mussten. Andrej setzte sich auf und wäre um ein Haar gleich vornübergefallen, als ihn ein heftiges Schwindelgefühl ergriff und ein stechender Schmerz durch seinen Schädel fuhr. Stöhnend verbarg er das Gesicht in den Händen, wartete, bis das Pochen hinter seiner Stirn nachließ, und richtete sich dann ein zweites Mal und sehr viel vorsichtiger auf. In Erwartung eines neuerlichen Schmerzes tastete er behutsam mit den Fingerspitzen zuerst nach seiner Schläfe, dann nach seinem Auge. Er fühlte nur den rauen Stoff des Turbans, aber immerhin, sowohl Schläfe als auch Auge waren noch an ihrem Platz, denn schon die bloße Berührung tat weh. Auch seine linke Schulter meldete sich mit einem leichten Ziehen wieder zurück. Was um alles in der Welt war nur mit ihm los? Sicher, die Verletzungen waren schlimm gewesen, jede einzelne davon schwer genug, um einen normalen Menschen augenblicklich zu töten – aber er war kein normaler Mensch.
Und warum waren die beiden Wunden nicht schon längst verheilt? Das letzte Mal, dass er eine Verletzung erlitten hatte, die nicht nach wenigen Stunden (meistens jedoch schon nach Minuten) spurlos verschwunden war, war ein Jahrhundert her, und vielleicht sogar länger. Waren die beiden Musketenkugeln
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