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Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall
Autoren: Sandra Lüpkes
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Dreck versanken und man die Spuren der Walderde womöglich nie wieder aus dem Velours gebürstet bekam.
    »Du hast Jan gefunden«, sagte Wencke.
    Silvie hörte es, verstand es auch, doch irgendwie meinte sie, nichts damit zu tun zu haben. Was hier gerade passierte, tangierte sie in keinster Weise. Wie im Film, die Stelle kurz vor dem Abspann, aber nichts, was mit Silvie Hüffart irgendwie in Verbindung stand. Sie sah diese Szene wie auf der Kinoleinwand: überlebensgroß und gleichzeitig sehr weit weg.
    »Du hast bei deinem Gang durch den Wald den kleinen Jungen auf diesem Betonsockel sitzen sehen. Ganz allein hat er hier auf seine Befreiung gewartet. Und dann bist du in deiner Uniform um die Ecke gekommen, auf der Suche nach Jan. Er hat sich gefreut, dich zu sehen. Er hat dir bedingungslos vertraut.Und du bist auf ihn zugegangen  – und hast ihn mit dem Einhandmesser erstochen.« Wencke deutete eine Bewegung an, ihr rechter Arm fuhr hoch und runter, es sah unglaublich brutal aus. »In etwa so?«
    »Was weiß ich, es ist eine Ewigkeit her …« Die letzten Wochen hatten Silvie immer gleichgültiger werden lassen. Alles, was seit dem Götterfall geschehen war, verwischte mehr und mehr. Dass sie allein aus Island zurückgekehrt war. Dass sie diese Beerdigung über sich ergehen lassen musste. Ihr Haus, ihr Leben, das, was Karl ihr hinterlassen hatte: Es war alles egal. Sollte Wencke doch erzählen, was sie wollte. Es blieb alles ohne Sinn.
    »Und wo hast du Jan versteckt?«
    Silvie lief um das Betontürmchen herum. Wencke musste ihr folgen, denn sie waren ja noch immer aneinandergekettet. Man konnte die Öffnung im grauen Stein kaum noch erkennen, Flechten hatten das poröse Grau fast vollständig überzogen.
    »Was ist das überhaupt für ein Teil?«, fragte Wencke.
    »Das ist so ein Schutzraum, in den sich damals die Sprengmeister zurückgezogen haben, wenn sie im Steinbruch ihre Explosionen gezündet haben.« Das wusste Silvie selbst erst seit ein paar Jahren. Karl hatte es ihr mal auf einem Spaziergang erklärt. Damals, bevor die Pillen ihn alles vergessen ließen, hatte er ihr die ganze Welt erklärt, dachte Silvie, und nun war er weg und sie begriff nichts mehr.
    Götze kam zu ihnen, fand den alten, rostigen Griff, der nur noch halb an einer zerbröselten Stelle hing, und schaffte es mit viel Anstrengung, die verrottete Tür zu öffnen. Dann steckte er den Kopf hinein. »Es ist winzig!«
    »Hast du Jan da drin versteckt, bis es dunkel genug war und du den Sucheinsatz dazu nutzen konntest, um ihn an den fest eingeteilten Einsatztruppen vorbei zum See zu schleppen?«
    »Und wenn schon …« Es war anstrengend gewesen. Darankonnte sie sich noch erinnern. Sie hatte mehrere Etappen gebraucht, aber gute Verstecke gab es im Wald ja alle fünfzig Meter. Vor Entdeckung hatte sie sich nicht gefürchtet, das hier war ihr eigener Bezirk, und bis die Hundertschaften mit den Spürhunden gekommen wären, sollte man Jan schon längst an anderer Stelle gefunden haben. Dass sie hinterher völlig verschwitzt gewesen war, passte gut. Die Ärzte hielten es für eine Schockreaktion auf den Anblick des toten Kindes. Das Blut an der Jacke ließ sich durch die Rettungsaktion erklären, das Einhandmesser, so behauptete Silvie, war beim Einsatz verlorengegangen. Niemand fragte weiter nach.
    »Weißt du, worüber ich mir im letzten Monat immer wieder den Kopf zerbrochen habe?«
    Nein, das wusste Silvie nicht, und sie wollte es auch nicht wissen, aber das würde Wencke nicht davon abhalten, einfach weiterzureden.
    »Warum hat der Mörder den toten Jan auf dieses Boot gelegt? Immer wieder habe ich mir diese Frage gestellt. Und ausgerechnet Jarle Yngvisson hat mir dann auf Island den entscheidenden Tipp gegeben, nie nach dem Warum zu fragen, sondern immer nach dem Wofür . Darauf hätte ich als Fallanalytikerin eigentlich schon viel eher kommen müssen.« Wencke lächelte schief. »Und in deinem Fall müsste man dann noch einmal umformulieren und sich fragen: Für wen hast du diesen Aufwand betrieben?«
    Die Feuchtigkeit des Sommerregens, der noch am Laub klebte, kletterte bereits an Wenckes Hosenbeinen herauf. »Für wen hast du den Jungen auf das Boot gelegt, nachdem du ihn erstochen hast?«
    »Für Karl!«, sagte Silvie mehr aus Versehen, und Wencke nickte.
    »Du hast ihn damals schon geliebt, als ganz junge Frau hast du diesen Mann absolut vergöttert.«
    Das stimmte. Schon als Zwölfjährige hatte sie für ihn geschwärmt,für seine
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