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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung
Autoren: Tanja Kinkel
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erheben, als er plötzlich innehielt.
    »Neil?«, fragte er zögernd. »Neil LaHaye?«
    Das war’s dann, dachte Neil. Offenbar lesen auch drogensüchtige Bettler Bücher. Er wollte gerade aufstehen, als der andere fortfuhr.
    »Mensch, Neil, ich bin’s. Ted. Ted Sandiman.«
    Das Schlimmste war, dass er sich wirklich nicht lange den Kopf zerbrechen musste. Ted Sandiman hatte nie zu seinen Freunden oder Feinden gehört; in der Zeit, in der Neil seine restlichen Schuldgefühle wegen seines damals verstorbenen Vaters beschwichtigte und im College bis zum Umfallen Baseball trainierte, war Ted mit ganzem Herzen Athlet gewesen, der es nur dank seines Sporttalents in das gleiche College geschafft hatte. Die Rivalität zwischen ihnen hatte so lange bestanden, bis Neils Schuldgefühle in der Hitze gewonnener Spiele verschwunden waren, und war ohne persönliche Feindseligkeit gewesen. Dazu war Ted Sandiman schlicht und einfach zu nett. Ein Junge aus Iowa, mit einem offenen Lächeln für jedermann, nicht dumm, nicht klug, ein begnadeter Sportler, dem jeder eine große Zukunft und ein Alter mit Wohlstand im Kreise einer großen Familie prophezeite.
    »Mindestens vier Kinder«, war seine Devise, zu einem Zeitpunkt, an dem das Motto der anderen lautete: »Möglichst viel Sex«. Ted Sandiman, freundlich genug, um auch nach einem Homerun noch daran zu denken, dem Pitcher ein paar nette Worte zu sagen.
    »Ted?«, wiederholte Neil, zu frappiert, um sich eine angemessenere Begrüßung einfallen zu lassen. Er versuchte vergeblich, den Jungen aus den College-Zeiten in Einklang mit dem Wrack neben sich zu bringen. »Was… was machst du in Boston?«
    »Sterben«, sagte der andere unverblümt. »Wonach sieht’s denn sonst aus?« Er sackte in sich zusammen. »Jetzt aber ernsthaft, Neil - du hast keine Mäuse? Ich brauche…«
    Seine Finger zitterten etwas heftiger.
    »Ernsthaft, Ted«, entgegnete Neil und bemühte sich um Normalität in seinem Tonfall, »wirklich nicht. Mir hat in der Nacht eine Blondine mein ganzes Geld geklaut, und es wird dauern, bis Ersatz da ist. Aber wenn du willst, lade ich dich mit dem, was mein Kollege mir geliehen hat, zum Essen ein.«
    Ted räusperte sich. »An Essen hab ich eigentlich nicht gedacht.«
    Neil beschloss, das Normalitätsspiel sein zu lassen.
    »Hör mal, ich will hier nicht den Heuchler spielen und dir Predigten halten«, sagte er. »Wir machen uns alle auf unsere eigene Art fertig. Aber was auch immer es bei dir ist, H, Ecstasy, Crack - ich habe keine Lust, dir den Selbstmord zu finanzieren.«
    Zu seiner Überraschung brach Ted in Gelächter aus, das rasch zu einem heiseren, trockenen Husten wurde.
    »Und das von jemandem, der mal einen Pro-Sterbehilfe-Artikel geschrieben hat«, erwiderte der ehemals beliebteste Baseball-Spieler der College-Mannschaft, als er wieder zu Atem kam. »Siehst du, ich habe einiges von deinem Zeug gelesen. Nicht schlecht, aber für mich spielt es keine Rolle mehr, Neil. Hat keine Rolle mehr gespielt, seit sie mir den Bescheid gegeben haben.«
    »Krebs?«, fragte Neil automatisch.
    »AIDS, Mann. Und jetzt erzähl mir, wieso nicht das große H den Wettkampf mit dem großen A in meiner Schrottmühle von einem Körper gewinnen soll.«
     
    Nur ein Zufall, sagte sich Neil, als er wieder in seiner Wohnung saß und seine nächste Vorlesung vorbereitete. Nichts als ein Zufall. Tragisch, die Sache mit Ted, aber nirgendwo stand geschrieben, dass ehemalige Kameraden aus College-Tagen, die einmal grenzenlosen Optimismus verkörpert hatten, von tödlichen Krankheiten verschont blieben.
    Wann hatte die Sorge um AIDS eigentlich angefangen, schlichtweg jeden zu erfassen? Für ihn waren es nicht die Statistiken gewesen, auch nicht der plötzliche Tod von Deirdres Vorgängerin bei Senator Cunningham, sondern die sich später bewahrheiteten Gerüchte um Freddie Mercury, die AIDS von einer weiteren erschreckenden Nachricht zu einer aufrüttelnden Wirklichkeit machten. So ungerecht und oberflächlich, dachte Neil, aber wenn das Idol deiner Jugend stirbt, auch wenn du ihm nie begegnet bist, trifft dich das tief, tiefer als der Tod einer Bekannten, über die sich deine Frau in regelmäßigen Abständen beim Abendessen beschwert hat, bis ins Herz trifft es dich.
    Selbst der allgegenwärtige Terror der Gegenwart, die Furcht, durch Bomben, Milzbrand, Pocken oder durch eine andere heimtückische Waffe zu sterben, die von Terroristengruppen eingesetzt wurde, hatte die tief sitzende Angst vor AIDS
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