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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung
Autoren: Tanja Kinkel
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traf ihn jedes Mal, wenn er mit der U-Bahn aus Cambridge kommend den Charles überquerte. Eine koloniale Eloge in rotem Ziegel und Backsteinpflaster, die sich harmonisch mit der Moderne aus Glas und Metall verband. Wahrend seiner ärmlichen Kindheit in Louisiana hatte er von solchen Städten geträumt, während er Onkel Owen ein weiteres Mal half, die Bodendielen aufzureißen und neu zu legen, weil die Feuchtigkeit, die Würmer und die Insekten sie zerfressen hatten. Boston brachte es fertig, im Vergleich sogar Washington wie einen Emporkömmling wirken zu lassen, und das war ihm nach seinem vergifteten Abschied von der Hauptstadt sehr bewusst und sehr willkommen.
    Ein wenig Aberglaube war auch dabei. Boston hatte ihm Glück gebracht. In Boston hatte er einen der wichtigsten Zeugen für das Buch aufgestöbert, das ihn und Matt berühmt gemacht hatte. Für Neil, der in einem Landstrich aufgewachsen war, in dem der Glaube an das Übernatürliche so fest verankert war wie die Angewohnheit, auf alles Lästige zu schießen, war es nie möglich gewesen, nicht automatisch nach guten und schlechten Vorzeichen zu urteilen, ganz gleich, wie oft er sich selbst darüber lustig machte.
    Boston bot ihm schlicht und einfach eine Zuflucht. Weniger Boston selbst als Harvard, eine akademische, elitäre Welt für sich, in der Skepsis gegenüber der jeweiligen Regierungspolitik nicht gleich als unpatriotisch verschrien, sondern eine gepflegte Tradition war. Nach dem pausenlosen Schwall an Feindseligkeit in Talkshows, bei Signierstunden und in bösartigen Leserbriefen, die ihm sein Verlag weitergeleitet hatte, lockte die Aussicht auf so eine Umgebung sehr.
    Umso mehr, er gestand es sich ungern ein, weil Deirdre für ihr Leben gerne in Harvard studiert hätte. Es war ihr nicht möglich gewesen, und da sie ihm mehr als einmal erzählt hatte, wie sie seinerzeit vergeblich und unter Tränen auf eine Zusage gewartet hatte, wusste er genau, dass dieser unerfüllte Traum für sie ein wunder Punkt war. So schäbig und rachsüchtig er sich dabei fühlte, er konnte die dunkle Befriedigung bei der Vorstellung nie ganz unterdrücken, dass sie jedes Mal, wenn sie die Kinder zu ihm nach Cambridge schickte, an diese Niederlage denken musste.
    Nimm dich zusammen, LaHaye, dachte Neil abgestoßen, als ihm bewusst wurde, dass er sich schon wieder dem Selbstmitleid näherte. The show must go on. Wie Deirdre richtig bemerkt hatte, waren seit der Scheidung bereits zwei Jahre vergangen. Es gab geschiedene Paare, für die eine Trennung wesentlich schlimmere Folgen hatte; er und Deirdre bekriegten sich weder um Zahlungen noch um die Tage, die Julie und Ben bei ihm verbrachten. Aber ihre Scheidung hatte auch nichts mit Geld zu tun gehabt. Es war ein Beruf gewesen, der den Ausschlag gegeben hatte, doch nicht seiner.
    Deirdre arbeitete für einen Senator, der sich zum Ziel gesetzt hatte, irgendwann Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Ihr Senator schätzte sie, aus gutem Grund. Deirdre konnte einem auf Anhieb das College, den Geburtstag und den Hochzeitstag jedes wichtigen Mitglieds der Regierung und der Opposition nennen, sie wusste, wo man sich sehen lassen konnte und welche Orte ein auf sein Image bedachter Politiker lieber meiden sollte. Sie brachte es sehr schnell fertig, die häufig wechselnden Lobbyisten nach Ohrenbläsern und Könnern zu unterscheiden. Durch ihre Ehe mit Neil kannte sie die in Washington ansässige Presse gut genug, um sie, falls nötig, um den Finger zu wickeln.
    Ja, Senator Cunningham schätzte Deirdre sehr, aber er hatte unmissverständlich klargemacht, dass die zukünftige Leiterin seines Wahlkampfteams unmöglich mit einem Mann verheiratet sein konnte, der, wie der Senator sich ausdrückte, »in einer Zeit, in der Amerika Einigkeit und Stärke beweisen muss, seinen Dolch in Amerikas Rücken stößt.«
    »Warum kannst du nicht einmal«, sagte Deirdre in seiner Erinnerung, erschöpft und verbittert, »an mich und die Kinder denken. Ich meine, es gibt Dutzende von Themen, über die du schreiben könntest. Gerade jetzt. Warum schreibst du nicht über tapfere Feuerwehrleute, die ihr Leben gegeben haben, um andere zu retten? Du könntest über Passagiere in den Flugzeugen schreiben, die von den Terroristen entführt wurden. Du meine Güte, weißt du nicht mehr, wie wir damals die Passagierlisten durchgegangen sind und Angst hatten, einer unserer Freunde könnte dabei sein? Aber nein, du schreibst stattdessen über einen dreckigen
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