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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung
Autoren: Tanja Kinkel
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hättest dich in der Aufregung nicht mehr an all die Zahlen erinnern können. Du rufst mich auf der Stelle an.«
    Um diese Uhrzeit arbeitete sie natürlich schon. Als sie sich mit »Büro von Senator Cunningham« meldete, die Stimme geübt in freundlichem Optimismus, spürte er die alte Versuchung, sie zu verletzen und zu fragen, ob alle Senatoren ihre Angestellten zum Training zu Ansagediensten schickten, damit sie auch wirklich unpersönlich klangen. Er schluckte die Worte hinunter, was ihm nicht weiter schwer fiel. Die Scheidung lag nun schon fast zwei Jahre zurück, und die Bitterkeit darüber kostete wie jedes andere heftige Gefühl dieser Tage Mühe.
    »Deirdre«, sagte er ohne jede weitere Einleitung, »mir sind meine Kreditkarten abhanden gekommen. Frag mich bitte nicht, wie. Ich weiß, dass ich mir die Nummern irgendwo notiert habe, aber ich finde sie nicht. Ganz zu schweigen von der Durchwahl meiner Bank. Kannst du mir aushelfen?«
    Um das Schweigen am anderen Ende zu füllen, fügte er hinzu: »Sonst bleibt mir nächsten Monat wirklich nur noch die Ausrede mit dem Scheck, der irgendwo bei der Post liegen muss, was den Unterhalt für die Kinder angeht.«
    Sie seufzte. »Neil«, sagte sie, »es sind jetzt bald zwei Jahre.«
    »Ich weiß«, erwiderte er und stellte fest, dass seine Stimme unerwartet heiser klang.
    »Das bezweifle ich. Es kommt mir eher so vor, als ob du den Eindruck hast, geschieden sein bedeutet, nur noch die Vorteile einer Ehe zu haben und keine der Verpflichtungen. Ich bin nicht länger dein Mädchen für alles. Dir dein Leben bequemer zu machen, ist nicht mehr mein Job.«
    »Glaub mir«, gab er zurück, schärfer, als er beabsichtigt hatte, »ich weiß sehr gut, was dein Job ist. Und wo deine Prioritäten liegen.«
    Er hörte, wie sie rasch Luft holte. Die Anschuldigung, die er nicht aussprach, die ungesagten Worte, die als kleine elektronische Funken irgendwo zwischen Cambridge und Washington durch ein Gewirr von Kabeln tanzten, kleine grüne Funken, weil Grün für ihn die Farbe der Enttäuschung war. Nein, er würde Deirdre nicht um Verzeihung bitten.
    »Also gut, ich erledige die Sache mit den Kreditkarten«, sagte sie nach einem kurzen Zögern, spröde und sachlich, als erteile sie einem unerwünschten Reporter Auskunft über den Terminplan ihres Senators. Nun, er war so etwas wie ein unerwünschter Reporter. Mit immer noch gültigem Presseausweis, dank gelegentlicher Artikel für die UPI.
    »Ich wusste, dass du die Nummern noch hast«, sagte er. »Danke.«
    »Dieses eine Mal noch. Aber wenn du mich das nächste Mal anrufst, dann bitte nur noch wegen der Kinder.«
    »Nicht einmal ein Dankesanruf, wenn meine neuen Karten kommen?«, fragte er, aber sie weigerte sich, auf seinen spöttischen Tonfall einzugehen.
    »Neil«, entgegnete sie, und er wusste, dass sie sich immer noch auf die Worte bezog, die nicht zwischen ihnen gefallen waren, »es war deine Schuld. Du bist derjenige, der den Karren in den Dreck gefahren hat, aus reiner Sturheit. Und wenn du glaubst, du bringst mich dazu, ein schlechtes Gewissen zu haben, nur weil ich rechtzeitig mit den Kindern abgesprungen bin, dann täuschst du dich.«
    Sie legte auf. Das Freizeichen hallte unerwartet laut in seinen Ohren. Das Schlimmste war, dass er sie verstand. Er wünschte sich, sie und ihre Meinungen könnten ihm gleichgültig sein. Nicht Hass war der Tod der Liebe, dachte Neil, Gleichgültigkeit war es. Vielleicht würde es ihm leichter fallen, sämtliche Gefühle ihr gegenüber endgültig zu verlieren, wenn sie sich so weit verändert hätte, dass er an ihr nur noch den Namen erkannte. Doch ihre Ansichten, ihre Reaktionen, all das war ihm so vertraut wie der Körper, der auch nach zwei Kindern und fünfzehn Jahren Ehe immer noch der jener jungen Frau war, die ihn und Matt kurz vor dem Vietnam Memorial beim Joggen überholt hatte. Wenn er wollte, konnte er sich ihre Leggins ins Gedächtnis zurückrufen und die Art, wie ihr zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar auf den Schultern wippte, seine eigene Verblüffung, dass eine Frau schneller war. An jenem Tag hatte er keinen Blick auf ihr Gesicht werfen können; sie war einfach zu schnell. Er hatte sich damit getröstet, dass sie trotz der aufregenden Figur wahrscheinlich durchschnittlich und langweilig aussehen würde, verbissen, und mit Sicherheit eine unangenehme Stimme hatte, dass es besser wäre, nur die kurze Vision einer griechischen Göttin, die in einem etwas zu engem T-Shirt
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