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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung
Autoren: Tanja Kinkel
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muss daran liegen, dass für sie nichts mehr übrig ist, weil die Erwachsenen schon alles weggegessen haben.«
    Das Gelächter der Kinder war die Sache wert gewesen. Doch er dachte sofort an seinen Vater und wie er in ihrem Alter mit dessen endlosen Baseball-Geschichten gequält worden war, wenn er ihn besuchen musste.
    Neil kaufte sich mit Tonys Geld etwas frisch gebratenen Fang des Tages und setzte sich dann auf eine der grünen Bänke, um die Leute zu beobachten und den Musikern zuzuhören. Heute war kein Jazz an der Reihe; stattdessen mühte sich ein Junge, den Neil mit einem Blick als einen Studenten mit nicht genügend Studiengeld einordnete, redlich an Who wants to live forever ab , mit einer Gitarre, die er eher schlecht als recht meisterte.
    Wider Willen musste Neil an Tonys »Wir haben doch nicht mehr die Siebziger« denken. Tony hatte Recht. In den Siebzigern war er der hungrige Jugendliche gewesen, hungrig nach Wahrheit, Gerechtigkeit, und begierig danach, es allen zu zeigen. Hungrig, um der Wahrheit die Ehre zu geben, nach Erfolg und Bewunderung. In den Siebzigern hätte ein Mädchen, das ihn bestahl, ihn entweder dazu gebracht, ihr nachzustellen und sich sein Geld wiederzuholen, oder dazu, einen flammenden Artikel über soziale Ungerechtigkeit zu schreiben. Vermutlich zu beidem.
    Aber sie hatte wirklich einen schönen Hintern gehabt.
    »Who wants to live forever, who dares to love forever«, schmetterte der Junge und klang weniger wie Freddy Mercury als wie ein verirrter Chorsänger. »Forever IS hard to live, if love must die.«
    Kaum hatte er an Queen gedacht, da meldete sich Tonys Stimme schon wieder. »Was ist, wenn sie AIDS hat?« Neil zog eine Grimasse. Für ihn bedeutete Krankheit in erster Linie Krebs, den Krebs, an dem er seine Eltern hatte sterben sehen. Krankheit bedeutete ausgefallene Zähne bei einer knapp dreißigjährigen Frau, die Notwendigkeit, eine Perücke zu tragen, zitternde Hände und seine eigene kindliche Stimme, die ihr vorlas, weil seine Mutter am Ende nicht mehr lesen konnte. Als Neil alt genug war, um den Zusammenhang zu den Atomtests zu verstehen, die im Heimatstaat seines Vaters stattgefunden hatten, ehe seine Mutter ihren Mann verließ, hatte er sich nie auch nur flüchtig gefragt, wie viel Strahlung er selbst abbekommen hatte, ob er den Krebs in sich trug. Er wusste, dass er gesund war. Zum Erstaunen aller Ärzte war ihm alles, selbst die üblichen Kinderkrankheiten wie Röteln oder Masern erspart geblieben, sogar, als sämtliche Cousins und Cousinen, mit denen er aufwuchs, rotfleckig und fiebrig im Bett lagen. Krankheit bei anderen war ihm dagegen vertraut, und mit dem langen, langen Tod lebte er Wange an Wange, bis seine Mutter schließlich brüllend vor Schmerz starb. Um sich selbst hatte Neil sich nie Sorgen machen müssen oder wollen.
    Die jährlichen Pflichtbesuche bei seinem Vater waren niederdrückend gewesen, aber auf andere Weise. Wenn sein Vater nicht gerade das Schuldbewusstsein darüber ertränkte, dass er mit seiner Frau unbedingt Atomexplosionen beobachten musste wie eine Attraktion in einem Vergnügungspark, versuchte er Neil zu dem Sport-Ass zu machen, das er selbst nie gewesen war. All das trug dazu bei, in Neil die Furcht zu wecken, eines Tages als Versager zu enden, aber nicht jung zu sterben.
    Vielleicht, überlegte Neil, während er in Gedanken das Gitarrenspiel des Jungen durch das Original von Queen ersetzte, war es die Jugend gewesen, die ihn immer vor den Gedanken an den Tod beschützt hatte. Wer jung ist, lebt für immer.
    Who wants to live forever?
    »Dämliche Frage, was?«, sagte jemand neben ihm, und Neil stellte fest, dass sich ein Mann in einem abgeriebenen grünen Anorak zu ihm gesetzt hatte.
    »’ne kleine Spende, Bruder? Dann lebe ich zumindest bis übermorgen. Wenn schon nicht für immer.«
    Die braune Hand, die sich ihm entgegenstreckte, war ausgemergelt und zitterte. Neil schaute hoch und blickte in das Gesicht eines alten Mannes, der vom Leben längst aufgesaugt, ausgespien und zerstört worden war. Wieder tauchte das Bild seines Vaters vor ihm auf. Der Mann, der ihn gerade angebettelt hatte, roch nicht nach Alkohol, doch die zitternden Finger mit ihren fleckigen Spitzen kamen nicht vom Alter. Drogen vielleicht. Neil unterdrückte ein weiteres Mal den Wunsch nach einer Zigarette.
    »Tut mir Leid, Bruder«, entgegnete er. »Zurzeit lebe ich selbst auf Pump.«
    Der Alte schnaubte ungläubig und machte Anstalten, sich von der Bank zu
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