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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung
Autoren: Tanja Kinkel
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Ted inzwischen sein Glück an einem der Touristenorte. Bei Obdachlosenasylen oder Krankenhäusern anzurufen, wäre auch eine Möglichkeit. Aber so schwach, wie er heute Morgen schien, konnte Ted nicht weit entfernt sein; der Mann hatte nicht mehr die Kraft für längere Strecken.
    Neil ließ Faneuil Hall und die Hafengegend hinter sich und machte sich auf den Weg hügelaufwärts. Bei Bostons historischen Stätten mit ihren Touristengruppen fiel für Bettler das meiste ab, und irgendwo entlang des rot markierten Unabhängigkeitspfads würde er Ted auftreiben.
    Die Menschen, die sich in der Kälte dichter zusammenscharten und durch die alten Straßen drängten, hoben sich mit ihren braunen, gelben und blauen Mänteln wie farbige Tupfer vor den eleganten Torbögen aus blassem Sandstein ab und den Ziegelfassaden, deren Rot von der Zeit zu einer selbstverständlichen Zurückhaltung abgeschliffen worden war. Sie lachten und schwatzten miteinander, und Neil wurde einmal mehr bewusst, warum er an Boston hing. Es war keine Museumsstadt, durch die man sich nur flüsternd und unbehaglich bewegte, und auch kein Disneyland an der Ostküste. Es war Amerika, Amerikas Vergangenheit und seine Gegenwart. Das Amerika, das als erstes Nein zu einer überholten europäischen Ordnung gesagt hatte, und das Amerika, das nicht davor scheute, die Schönheit der Vergangenheit anzuerkennen und etwas Neues aus ihr zu machen. Es war das Amerika, in dem auch die ständige Furcht vor neuen Attentaten keine leer gefegten Straßen und duckmäuserische Zurückgezogenheit erreichen konnte, weil sich seine Bevölkerung nicht in ein fremdes Korsett zwängen ließ. Das war das Amerika, an das er glaubte und für das er schrieb.
    Er fand Ted auf dem kleinen Friedhof zwischen dem Public Garden und der King’s Church, zwischen den Grabsteinen zweier Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, in der einen Hand eine der kleinen Flaggen, wie sie hier überall herumstanden, die andere vor sich ausgestreckt.
    Er schaute auf und erkannte ihn. »Hey, Neil«, sagte er müde. »Nett von dir, dass du vorbeischaust.« Seine Stimme kratzte, als besäße er nicht mehr die Kraft, sie aus der Kehle zu pressen. Neil hatte nicht gewusst, was er eigentlich von Ted wollte, aber in diesem Moment verfestigte sich eine unbestimmte Vorstellung zu einem Entschluss.
    »Hey, Ted«, erwiderte er. »Meine Einladung gilt noch. »Wie wär’s mit einem Essen zu Ehren der College-Liga von 1985?«
    »Bin nicht sehr hungrig«, murmelte Ted, »das hab ich dir doch schon erklärt.«
    »Okay, dann vergiss das mit dem Essen. Wie wär’s, wenn du für eine Weile bei mir einziehst?«
    Ted blinzelte. »Ist das ’n Witz?«
    »Nein«, gab Neil zurück. Einen drogensüchtigen AIDS-Kranken bei sich einzuquartieren, war sicherlich nicht das Verhalten, das von Dozenten der Fakultät erwartet wurde. Aber die Vorstellung, sein Gespenst aus der Vergangenheit wie Müll den Straßen von Boston zu überlassen, konnte er nicht ertragen.
    »Warum willst du so was tun?«, fragte Ted, nicht ablehnend, aufgebracht oder erzürnt, sondern aufrichtig verwundert. »Ich meine, klar, ich hab versucht, dich anzupumpen, aber du weißt genauso gut wie ich, dass wir nie die dicksten Freunde auf dem College waren.«
    Der alte Neuengland-Friedhof mit seinen grauen Grabsteinen, die mit Skeletten verziert waren, war für ein solches Gespräch nicht der richtige Ort. Aber gab es den überhaupt?
    »Vielleicht, weil du mir einen Gefallen damit tust«, sagte Neil. »Ich bin geschieden und kann mich an das Alleinsein immer noch nicht gewöhnen.«
    Es war ebenso sehr Lüge wie Wahrheit. Wieder sah er den jungen, vor Kraft strotzenden Ted Sandiman vor sich, den begnadeten Spieler seiner College-Zeit, das weite Leben, das noch auf sie alle wartete. Voll Hoffnung auf seine Zukunft, gutmütig, ohne den Groll, der Neil bereits damals angetrieben hatte. Der Ted der Gegenwart, mit einer schrumpligen, fahlen Haut, mit zitternden Händen und tief eingefallenen Augen, musterte ihn und stand mit einiger Mühe auf.
    »Warum nicht«, sagte er schließlich achselzuckend.
     
    »Eine Zeit lang hab ich alles mitgemacht«, erzählte Ted, als sie später in Neils Wohnung saßen. Er aß von den Orangen, die Neil gekauft hatte; ein warmes Essen lehnte er nach wie vor ab. »Tabletten, in der richtigen Reihenfolge, zur richtigen Uhrzeit. War verdammt teuer. Geändert hat es letztendlich nichts. Nicht wirklich. Im Gegenteil, dadurch hat’s meine
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