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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung
Autoren: Tanja Kinkel
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nicht ersetzt. Acquired Immune Deficiency Syndrome. Die Syphilis des 21. Jahrhunderts. Und nun Ted, wie ein lebendiges Gespenst, so kurz nach Tonys Bemerkung. Zufall. Nichts als ein widerwärtiger Zufall.
    Er rief Ginny an und erkundigte sich, ob sie sich an den Namen der Frau erinnerte, die er gestern Abend bei ihr an der Bar kennen gelernt hatte.
    »Der blonde Lopez-Verschnitt?« Ginny schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Neil, lass die Finger von der. So, wie du gestern Abend drauf warst, hast du das wahrscheinlich nicht gemerkt, aber die ist rumgekommen, wenn du verstehst, was ich meine, und nicht zu knapp.«
    »Na ja, dass sie aus dem Kloster kam, habe ich auch nicht gedacht«, gab er zurück und versuchte seine aufsteigende Panik zu ignorieren, »aber ich würde schon gern wissen, wo sie steckt. Sagen wir mal so, sie hat da ein paar Sachen eingesteckt, die ihr nicht gehören.«
    »Tut mir Leid für dich«, erwiderte Ginny amüsiert. »Sie war so ein-, zweimal da, immer allein zuerst, aber nicht sehr lange.«
    »Aber du musst sie doch irgendwie angesprochen haben?«
    »Tja, ich glaube nicht, dass sie unter ›Baby‹ oder ›Honey‹ im Telefonbuch steht. Hör mal, Neil, ich rufe dich an, falls sie noch mal hier aufkreuzt, aber wenn du mich fragst, die haben wir hier zum letzten Mal gesehen.«
    Mit einem Mal kehrte eine Erinnerung an die Nacht zurück; das blonde Mädchen, die Regentropfen, die von ihrem durchnässten Haar in den tiefen Ausschnitt ihres Pullovers rannen. Der bittere Geschmack ihrer Lippen und die erfahrenen, zu erfahrenen Hände.
    Aber ihr Name fiel ihm immer noch nicht ein.
    Nachdem er aufgelegt hatte, horchte Neil in sich hinein, kämpfte mit der Vorstellung, die Unbekannte von gestern könnte ihn mit AIDS angesteckt haben. Es war ein Gefühl in der Magengrube wie die Flügelschläge des Vogels, der sich einmal in Onkel Owens Netzen verfangen hatte. In gewisser Weise beruhigte ihn das. Er war noch lange nicht bereit, Tony seinen Nachruf schreiben zu lassen. Nicht, dass Tony je die Chance bekommen würde. Wenn überhaupt etwas, dann war es das Wahrscheinlichste, dass Miss Tattoo ihm einen Tripper angehängt hatte, was zwar Ärger bedeuten würde, aber nicht weiter tragisch war. Auf jeden Fall war ein Besuch beim Arzt angesagt.
    Seine Arbeit half ihm, sich abzulenken; er konnte sich einige Stunden auf die Zusammenhänge von Satire und Zivilisationsekel im politischen Roman konzentrieren. Aber als er am Nachmittag spazieren ging, kehrte das Gespenst zurück wie ein Ball, den man mühsam unter der Wasseroberfläche gehalten hatte.
    Wenn Cambridge mit etwas reichlich gesegnet war, dann mit Buchhandlungen und Bibliotheken. Er musste sich informieren. Wenn schon aus keinem anderen Grund als sich das ruinierte Wrack im grünen Anorak, zu dem Ted Sandiman geworden war, irgendwie zu erklären.
    Beim Betreten der dreistöckigen Filiale von Millennium wurde er peinlich daran erinnert, dass er in dieser Umgebung alles andere als anonym war. Schon kurz hinter dem Eingang passte ihn eine seiner Studentinnen ab.
    »Hey, Dr. LaHaye«, sagte sie fröhlich, und Neil, der bereits mehr als einmal klargestellt hatte, dass er keinen Doktortitel führte, machte sich nicht mehr die Mühe, sie zu korrigieren.
    »Wegen meiner Seminararbeit… also, ich hab’s mir überlegt. Mein alter Herr bringt mich um, wenn ich dieses Semester nicht schaffe, aber ich brauch schon ein paar Monate, um mich durch so eine Wahnsinnsbibliographie zu arbeiten, also dachte ich…«
    Er hörte nur mit halbem Ohr hin und erinnerte sich wieder, warum er am Morgen Tony und niemand anderen aufgesucht hatte. Tony verfügte über eine unschätzbare Eigenschaft in dem kleinen, in sich geschlossenen Treibhaus, das Harvard darstellte; er war diskret und behielt Dinge für sich, wenn man ihn darum bat.
    Als ihn auch noch das Mädchen am Informationsstand mit Namen begrüßte, beschloss Neil, auf den Erwerb von Büchern zum Thema AIDS in Harvard zu verzichten. Ohnehin ein lächerlicher Impuls. Aber Ted, dachte er. Ted war ein lebender Mensch, eine Realität, keine Hypothese.
    Ted wiederzufinden, erwies sich als nicht so einfach. In der Dämmerung, die sich am Spätnachmittag allmählich über die Stadt herabsenkte, schien das winterliche Boston ihn verschluckt zu haben. Neil lief zwischen den alten Markthallen mit ihren griechischen Säulen und den immer hungrigen Besuchern hin und her und konnte ihn nicht mehr entdecken. Nun, vielleicht versuchte
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