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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung
Autoren: Tanja Kinkel
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seinen eigenen Atem. Er fragte sich, wo sie sich befanden; war er lange genug bewusstlos für einen Flug nach Alaska gehalten worden, oder hatte man ihn zu einer näher gelegenen Einrichtung gebracht?
    »Wir mussten Sie so schnell wie möglich isolieren«, sagte Sanchez, als könne er Neils Gedanken lesen. »Aber wenn diese Ergebnisse stimmen, dann…« Mit gerunzelter Stirn starrte er auf sein Klemmbrett. »Das widerspricht allen bisherigen Daten«, murmelte er.
    Nutzloser Zorn stieg in Neil hoch, auf Sanchez, auf sich selbst, auf die Spezialeinheiten, auf die ganze Welt. Aber er verstand immer noch nicht, warum nur Sanchez hier war, statt West oder ein paar Mitglieder der Spezialeinheiten, die ihn verfolgt hatten. Halb vermutete er, dass er träumte und unter Psychopharmaka gesetzt worden war. Nun, dann hätten sie ihm besser Beatrice vorgaukeln sollen statt ihren Vater.
    Neil schaute an sich herab und stellte fest, dass er immer noch die gleichen Sachen trug, in denen er überwältigt worden war. Es machte alles ein wenig realer.
    »Wissen Sie«, sagte Victor Sanchez, »dass Sie und ich uns sehr ähnlich sind?«
    »Der Gedanke ist mir auch schon gekommen.«
    »Ist er das? Dabei können Sie es noch gar nicht wissen.«
    »Was?«, fragte Neil und empfand plötzlich das widersinnige Verlangen nach einer Zigarette. Er konnte sie vor sich sehen. Selber gerollt. Der Tabak von seinen Fingerspitzen geformt. Das Nikotin in seinen Lungen.
    »Dass wir beide, Sie und ich, für den Untergang der Menschheit verantwortlich sind.«
    Sanchez ließ sein Klemmbrett sinken und trat näher an die Fensterwand heran.
    »Ich habe Ihnen einmal gesagt, dass Sie meine Arbeit nie verstehen könnten. Sie hat wirklich nichts mit AIDS zu tun. Die einzige Verbindung, die besteht, ist folgende: Vor Jahren, als ich bereits im Auftrag von Livion mit verschiedenen Genkombinationen und ihrer Resistenz gegenüber diversen Viren und anderen biochemischen Kampfstoffen experimentierte, stieß ich auf ein ständig mutierendes Virus. Ich brauchte ein paar Nicht-Labor-Beispiele, und das, was mir meine Kollegen über diese ersten Fälle in New York und Los Angeles erzählten, hörte sich nach einem völlig überraschenden unabhängigen Auftauchen eines parallelen Virus an. Deswegen nahm ich sofort Untersuchungen in New York auf. Gebracht hat mir das für meine Forschung nicht sehr viel.«
    Das Verlangen nach einer Zigarette wuchs. Es war Neil rätselhaft, warum er sich auf einmal auf so eine Kleinigkeit konzentrierte. Sein Mund trocknete aus, während Sanchez mit seinem tiefen Bariton fortfuhr.
    »Was ich wirklich entwickelte, Jahre bevor sonst jemand auch nur die Möglichkeiten dazu hatte, es zu verstehen, war etwas ganz anderes. Natürlich musste es in absoluter Geheimhaltung geschehen. Schauen Sie sich das Hin und Her um die Stammzellenforschung heute an. Damals hätte man uns gekreuzigt, wenn es auch nur je erwähnt worden wäre, ein Ei mit unterschiedlichem Erbgut in vitro aufzuziehen und bis zur Geburt zu bringen, ganz zu schweigen von den Tausenden unvermeidlicher Fehlversuche mit den Föten. Abgesehen von allem anderen hätte Livion bei unserem Haftungsrecht mit Milliarden-Klagen rechnen müssen. Deswegen konnte ich nie etwas über meine Forschungen veröffentlichen und musste mich zurückziehen. Livion hat natürlich mehr getan, als es nur zu erwägen, sobald ich meinen ersten Vorschlag vorlegte. Livion war interessiert und finanzierte schlechthin alles. Es waren nur wenige Embryonen, die wir weit genug entwickeln konnten, damit sie neun Monate in vitro überlebten. Diese Kinder hatten ein sehr spezielles Erbgut, das sie gegen alle Krankheiten resistent machen sollte, mit einer Lebenserwartung, von der man nur träumen konnte. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass Livion für den Fall eines positiven Resultats überall in der Welt betuchte Klienten gehabt hätte.«
    Die Monotonie der weißen Wände fing an, Neils Augen tränen zu lassen. In seinem Herzen wusste er, worauf Sanchez hinauswollte. Aber er weigerte sich immer noch, es zu glauben.
    »Leider stellte sich bald heraus, dass unsere künstliche Genkombination, die das Erbgut vieler Spender in sich vereinte, äußerst instabil war. Von den vier Kindern, und ich hatte an die siebenhundert Embryonen gezüchtet, starben drei. Qualvoll. Nur eines überlebte, und dieses eine war nicht irgendein Kind. Es war noch nicht einmal wirklich Teil des Experimentes, nicht für mich. Es war mein Wunsch, Elaine
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