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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung
Autoren: Tanja Kinkel
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dann ist Julie in Sicherheit.
    Erst als er erwachte, bemerkte er, dass er doch geschlafen hatte. Im morgendlichen Dunst, in dem Nebel, der immer über der nassschweren Erde lag, ließen sich schwer Einzelheiten erkennen, aber auch mit dem Feldstecher konnte er keine Veränderung ausmachen. Lou brach um die übliche Zeit in Richtung Gemeindebibliothek auf, Owen besuchte seinen ersten Klienten, und Neil wartete darauf, dass sich unerwünschte Besucher blicken ließen. Er wartete vergeblich. Sein Proviant ging zur Neige, doch trotz des Hungers rührte er sich nicht vom Fleck.
    Ein Bad, dachte Neil. Wenn ich sie erst begrüßt habe, werde ich baden. Lange. Dann werden wir reden, und ich werde sie wieder verlassen, um mich in der Bayou zu verstecken, aber für kurze Zeit, nur für kurze Zeit werde ich Owen und Lou wiederhaben.
    Er machte ein paar Dehn- und Streckübungen, um beim Warten nicht völlig steif zu werden, und beobachtete weiter. Als die Dämmerung sich erneut senkte, ließ er den alten Baum seiner Kindheit hinter sich zurück und ging auf das Haus zu, langsam, Schritt für Schritt.
    In meinem Ende liegt mein Anfang. Wieso kam ihm jetzt dieser Satz in den Sinn? Oder hieß es: In meinem Anfang liegt mein Ende? Es war jemandes Motto gewesen, aber es fiel ihm nicht ein, von wem es stammte.
    Als er die Hand hob, um zu klopfen, ging die Tür auf, und er zuckte zusammen. Doch es war nur Lou, die vor dem Abendessen noch einmal die Hunde ausführen wollte. Sie starrte ihn an, ließ die Leinen fallen, an denen sie die Hunde hielt, und breitete die Arme aus. Hinter ihr sah er das vertraute Wohnzimmer, mit Owen auf der Couch vor dem Fernseher, während seine Cousine Suzanne ihm eine Schale mit Erdnüssen hinstellte. Er roch den Duft von gebratenem Katzenfisch aus der Pfanne; das Klappern aus der Küche musste von Iris kommen, die sich ebenfalls zum Abendessen eingefunden hatte. All das nahm Neil in sich auf, sog es in sich hinein in den wenigen Augenblicken, ehe er bemerkte, dass etwas an seiner Seite sich bewegte. Er sah noch, wie Lous Miene sich veränderte, der Mund in einer Grimasse der zu Entsetzen werdenden Überraschung nach unten sank, dann spürte er einen heftigen Schlag auf den Kopf, und Dunkelheit fing ihn auf.
     
    * * *
     
    Das Erste, was er wahrnahm, war der Geruch, den er mit Krankenhäusern assoziierte: der antiseptische Gestank von Arznei. Natürlich, er musste an Bens Bett eingeschlafen sein. Ben lag im Koma, aber er würde wieder erwachen, natürlich würde er das.
    Dann kehrte die Erinnerung zurück.
    Sein Nacken war steif, aber zu seiner Überraschung stellte er fest, dass seine Hände und Beine frei von Handschellen oder sonstigen Fesseln waren.
    Langsam öffnete Neil die Augen. Er rechnete mit Wests Gehilfen oder mit ein paar Militärs. Auf den Anblick, der sich ihm bot, war er nicht gefasst.
    Er befand sich in einer Art hermetisch verschlossener Zelle, mit drei Wänden, die aus hellem Plastik zu bestehen schienen, und einer vierten, durchsichtigen Glaswand. Dahinter stand eine vertraute Gestalt, die ihn beobachtete.
    Victor Sanchez sah nicht viel anders aus als bei ihrer ersten Begegnung, hoch gewachsen, mit Haar, das inzwischen nicht mehr grau, sondern schlohweiß war, und dem Kopf eines unwilligen Pharaos. Er trug einen Ärztekittel und hielt ein Klemmbrett in der Hand.
    »Haben Sie Kontakt mit Beatrice gehabt?«, fragte er in einem scharfen Tonfall, als er sah, dass Neil erwacht war.
    Neil schwieg, doch Sanchez las die Antwort von seinem Gesicht ab. Er musterte Neil mit einer Mischung aus Entsetzen und schicksalsergebener Trauer. Neil zuckte die Achseln, unfähig, Mitleid oder Triumph zu empfinden. Sanchez mochte eine Tochter verloren haben, doch Beatrice lebte zumindest. Sie lebte, und daran konnte Sanchez sich ebenso klammern, wie Neil selbst es tat.
    »Haben Ihre Freunde in Schwarz meinen Onkel und meine Tante in Ruhe gelassen?«, fragte er zurück.
    »Da man Sie erwischt hat, bevor Sie Kontakt mit ihnen aufnehmen konnten, ja«, erwiderte Sanchez und fügte mit rauer Stimme hinzu: »Ihre Verwandten werden vielleicht die einzigen Beteiligten sein, die Glück in dieser Sache hatten.«
    Stille senkte sich über sie. Neil lehnte den Kopf zurück und versuchte, mit dem Gefühl der Leere, das ihn erfüllte, etwas anzufangen. Sie entsprach der völligen Geräuschlosigkeit seiner Zelle. Sanchez’ Stimme musste durch eine verborgene Gegensprechanlage übertragen werden, aber ansonsten hörte er nur
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