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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung
Autoren: Tanja Kinkel
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war es, bestimmt, die Entscheidung, die sie treffen wollte, und bei der sie ihn nicht um Rat bitten konnte, nicht mit dem Blut seines Sohnes, das er an seinen eigenen Händen kleben spürte, und nicht in dem Wissen, dass er ihren Vater wie den Rest von Livion dafür verantwortlich machte.
    Er versuchte, seine Gedanken zu bremsen, doch sie entglitten ihm wie die Fische seiner frühen Kindheit, die er mit den Händen fangen wollte, glitzernd und blitzschnell. Seine Glaubwürdigkeit war zerstört, damit hatte Matt Recht. Niemand würde mehr etwas von Neil LaHaye drucken. Selbst wenn er behaupten würde, Coca-Cola würde seine Dose demnächst um einen Cent verteuern, würde er nur Gelächter ernten.
    Aber Beatrice. Was hatte sie in der Hand? Es musste wirklich genug sein, um den Männern im Dunkeln Schrecken einzujagen und einen derart aufsehenerregenden Einsatz wert zu sein. Und vielleicht noch mehr.
    Wenn es Beatrice nur gelang, in Freiheit zu bleiben, wenn sie sich in Miami wiedertrafen, dann gab es eine Chance. Ihm war klar, dass er schon jetzt viel Glück gehabt hatte. Es gab nur noch die eine Chance. Das Material musste an die Öffentlichkeit gelangen, keine Theorien mehr, keine Indizien, sondern Fakten, brutale Beweise, danach wäre es sinnlos, sie beide verschwinden zu lassen.
    In New Orleans hielt er sich nur lange genug auf, um sich Proviant, eine Decke und einen Feldstecher zu kaufen, ehe er sich in den Bus Richtung Lafayette setzte. Ben, dachte er. Vielleicht hat alles noch einen Sinn. Der Greyhound fuhr über die Autobahn, deren Betonsäulen aus dem allgegenwärtigen Sumpfboden emporragten, und es kam ihm vor, als würde sein Herz wieder anfangen zu schlagen.
    Nur eine Chance.
    Die moosverhangenen Bäume, die wenigen Tabakfelder, die es zwischen all dem Korn und Mais noch gab, das alles atmete ihm durch die Glasscheiben des Busses Heimat zu. Bis Lou und Owen nach Washington gekommen waren, hatte er nicht geglaubt, noch so in Louisiana verwurzelt zu sein. Fläche und Hitze, Üppigkeit im Leben und im Tod. Er sah die alten Friedhöfe mit ihren Marmorplatten vorbeigleiten und dachte auf einmal: Wenn Ben hier gestorben wäre, dann hätten wir eine »Wake« gehabt. Zu viel Verwandte, zu viel Alkohol, doch wir hätten sein Leben gefeiert, nicht nur seinen Tod betrauert.
    In Lafayette wechselte er zu dem Bus nach Opelousas. Von dort aus ging er zu Fuß weiter. Auf sein Glück konnte er sich nicht ewig verlassen. Möglicherweise vermuteten ihn die Herren im Hintergrund anderswo, vielleicht aber auch nicht. Er würde erst Owens Haus beobachten, lange und ausführlich, ehe er sich seiner Tante und seinem Onkel zeigte.
    Es war heiß, die Sonne brannte auf seine frisch geschorene Glatze, die Mücken zerstachen ihn, selbst wenn sie nicht so groß wie die in Alaska waren, und das hohe Gras zerkratzte ihm die Haut, doch er spürte all das kaum, während er sich jenseits der Straße durch die Felder schlug.
    Hoffnung. Es gibt noch Hoffnung.
    Schließlich kam er in das Gelände, in dem ihm jeder Baum, jeder Strauch vertraut war. Einen der Bäume musste Owen gefällt haben, vermutlich, weil er groß genug geworden war, um bei einem Tornado auf das Haus zu stürzen. Aber die anderen Bäume, die Birken, die alte Weide mit den Moosschlieren, sie standen noch, und er richtete sich hinter ihnen auf eine längere Wartezeit ein. Es stand nur Owens Wagen vor der Tür, aber das hatte nichts zu bedeuten.
    Mit dem Feldstecher beobachtete er Lou dabei, wie sie mit ihrem eigenen altersschwachen Auto von der Arbeit nach Hause kam, die Hunde begrüßte und von Owen mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange empfangen wurde. Alles schien normal zu sein.
    Denk an das Handy, dachte Neil. Wenn das nicht passiert wäre, dann wüsstest du heute noch nicht, dass sie schon in Alaska hinter dir her waren.
    Er aß die Äpfel, die er mitgebracht hatte, schaute zu dem Haus, in dem er einen großen Teil seiner Jugend verbracht hatte, und fragte sich, ob der Fußboden wieder einmal ausgebessert werden musste. Das Bedürfnis, Owen und Lou einfach in die Arme zu fallen, wurde immer stärker. Nimm dich zusammen, dachte Neil. Du musst erst sicher sein. Sie haben Besseres verdient, als zu erleben, wie du vor ihren Augen erledigt wirst.
    In der Nacht kam eine seiner Cousinen zu Besuch, mit dreien ihrer Kinder. Neil biss sich auf die Lippen, bis sie bluteten.
    Julie ist in Sicherheit. Das wenigstens muss so sein. Wenn er mir glaubt, wenn Armstrong mir glaubt,
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