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Gnosis

Gnosis

Titel: Gnosis
Autoren: Adam Fawer
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ging zur Tür hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    «Guten Rutsch», murmelte Elijah in den dunklen Raum. Einen Moment starrte er ins Leere und strich gedankenverloren über das silberne Kreuz an seinem Hals. Er hatte unwillkürlich die Kette unter seinem Hemd hervorgeholt – wie immer, wenn er nervös war.
    Als Terry seine Angewohnheit einmal aufgefallen war, hatte sie ihn gefragt, woher er die Kette eigentlich habe. Seltsamerweise konnte er sich nicht daran erinnern. Er trug die Kette schon sein ganzes Leben lang. Verlegen hatte Elijah ihr erklärt, er habe sie von einer Ex-Freundin geschenkt bekommen, obwohl das nicht stimmte. Als Haptophobiker neigte er nicht eben zu romantischen Verwicklungen.
    Nein, das Kruzifix hatte er von jemand anderem bekommen. Nur hatte er keine Ahnung, von wem.
     
    Winter Zhi schloss die Augen und atmete tief ein.
    Sie konnte es spüren: wie die Leute sie anstarrten, lauschten, warteten. Sie fragte sich, wie viele es sein mochten. Zweitausend? Drei-? Sie konnte sich nicht erinnern. Es war aber auch egal. Sie hatte kein Lampenfieber. Ganz im Gegenteil: je größer das Publikum, desto dynamischer ihr Spiel.
    Wie oft fühlte sie sich wie ein Vampir: Sie saugte die Leute aus. Sie brauchte die Emotionen, die Energie des Publikums, um die herzerweichenden Hörwelten zu erschaffen, für die sie berühmt war. Während sie ihren Gedanken nachhing, bauten die Klarinetten und Flöten, die Geigen und Bratschen ein grandioses Crescendo auf.
    Gleich war es so weit.
    Die Holzbläser und Streicher der New Yorker Philharmonie kamen zum Ende der Einleitung von Tschaikowskys Violinkonzert in D-Dur, lebhaft und leichtfüßig – Allegro moderato. Sie widerstand der Versuchung, ihren Glücksbringer zu berühren, das silberne Kreuz, das an ihrer Brust baumelte. Stattdessen holte sie tief Luft und begnügte sich damit, das warme Metall auf der Haut zu spüren.
    Sie blickte auf, und das grelle Licht der Scheinwerfer stach in ihre grünen Augen. Traurig lächelnd hob sie ihre Geige an und spielte. Schon beim ersten Ton des Solos hüpfte ihr Herz vor überschäumender Freude, erfüllt vom reinen, vollen Klang.
    Mit leidenschaftlichem Spiel fegte sie durch den ersten Satz, dann hielt sie inne und setzte zum Andante des wundervoll melancholischen zweiten Satzes an. Auf halbem Wege hellte sich die Stimmung der Musik auf, und unter dem Getöse der Trommeln und Blechbläser stieg das Orchester in den atemberaubend schnellen letzten Satz ein, das Allegro vivacissimo, und schmetterte die 125 Jahre alte russische Melodie.
    Hoch über den Klarinetten und den Flöten, den Trommeln und Trompeten, fegte der Bogen über die Saiten von Winters Stradivari, peitschte sagenhafte Läufe und Sprünge hervor, bis der Schluss, die aufwühlende Koda, begann. Während des gesamten Konzertes hatte Winter keinen einzigen bewussten Gedanken. Stattdessen pulsierte ihr Geist vor rohen, reinen Emotionen.
    Ein Reporter der New York Times hatte sie einmal gefragt, wie ihr nach einem Konzert zumute sei. Augenblicklich hatten ihre Porzellanwangen einen rosigen Ton angenommen, und sie senkte den Kopf, sodass ihr pechschwarzes Haar vor das Gesicht fiel. Sie konnte ihre Empfindungen nur mit dem vergleichen, was man nach dem Sex fühlt. Erschöpft, selig, ausgelaugt, erfüllt.
    Heute war es nicht anders.
    Einen kurzen Moment nachdem Winter ihren Bogen hatte sinken lassen, hing der letzte Akkord des Orchesters noch in der Luft. Ein vollendeter Klang. Winter verlor sich, berauscht von der Nähe, die sie zu ihrem Publikum empfand, bis der Moment vorbei war.
    Der Applaus ging über sie hinweg wie eine warme Woge. Sie machte einen schüchternen Knicks. Die Menge erhob sich von den Sitzen, und die Pfiffe und der Jubel wurden lauter. Noch einmal verneigte sie sich. Ein Lächeln strich über ihr bekümmertes Puppengesicht.
    Ein Mann im Smoking kam auf die Bühne und überreichte ihr einen Strauß roter Rosen, den sie mit einem Kuss auf die Wange und einem gezwungenen Lächeln entgegennahm. So hübsch die Blumen auch sein mochten – Winter machten sie Angst.
    Sie suchte die vorderen Reihen ab, als könnte sie den neuen Stalker von der Bühne aus, inmitten der buntgemischten Fangemeinde, erkennen. Zwischen den typischen Liebhabern klassischer Musik – weißhaarigen Herren mit ihren repräsentativen Gattinnen – sah sie scharenweise Teenager, Twens und Ex-Twens, viele davon offenherzig gekleidet, um ihre gepiercte oder tätowierte Haut zur Schau zu
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