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Gnosis

Gnosis

Titel: Gnosis
Autoren: Adam Fawer
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dort miteinander rangen.
    Plötzlich flog die Garderobentür auf. Winters Herz schlug bis zum Hals, und sie riss vor Schreck die Augen auf. Als sie dann ihre Mutter sah, war es um das letzte bisschen Frieden geschehen. Mit finsterem Blick musterte Carol Royce die Kerzen, die überall am Boden standen. Sie war nicht gerade begeistert, dass Winter, obwohl sie regelmäßig in die Kirche ging, außerdem die Philosophie ihrer chinesischen Ahnen angenommen hatte.
    Ihre Mutter machte Licht und begann, die Kerzen einzusammeln, die sie einfach ausblies.
    «Also wirklich, Winter … eines Tages wirst du noch alles abbrennen. Und musst du eigentlich überall die Möbel verrücken?»
    Winter betrachtete die vier Stühle in dem kleinen Zimmer, die allesamt auf die Tür ausgerichtet waren. Sie antwortete nicht. Sie war klug genug, mit ihrer Mutter nicht über feng shui zu diskutieren. Außerdem war ihre Mutter sechsundzwanzig Jahre mit einem Buddhisten verheiratet gewesen, und man musste ihr sicher nicht erklären, dass die Stühle zur Tür ausgerichtet waren, damit die bösen Geister dort entschweben konnten.
    Nachdem ihre Mutter alle Kerzen weggeräumt hatte, musterte sie vorwurfsvoll die Blumen auf Winters Schminktisch.
    «Sind die von ihm?» Das letzte Wort spuckte sie aus wie einen Zigeunerfluch.
    «Nein, Mom.»
    «Von wem dann?» Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm ihre Mutter die Karte. Sie warf einen Blick darauf und rollte mit den Augen. «Wieder ein verliebter Irrer. Du solltest nicht mehr auf Tournee gehen.»
    «Mom, darüber haben wir doch schon gesprochen.»
    «Nur bis Gras über alles gewachsen ist. Du solltest etwas kürzertreten und das Rampenlicht meiden.»
    «Ich lasse mich nicht vertreiben.»
    «Aber so kann man doch nicht leben!»
    «So wie du es gerne hättest, kann ich auch nicht leben!»
    Winter kämpfte mit den Tränen. Sie war immer so stolz darauf gewesen, ihre Gefühle im Griff zu haben. Aber sobald ihre Mutter ins Spiel kam, fühlte sie sich, als würde sie wahnsinnig werden.
    «Ich will doch nur helfen.» Ihre Mutter blickte zu Boden, bevor sie wieder mit ihrer üblichen Predigt begann. Sie sprach hastig, als stolperte sie förmlich über ihre Worte: «Hättest du doch nur auf mich gehört, was Michael betrifft, dann wäre nichts von alledem …»
    «MOM! ES REICHT!»
    Ihr Ausbruch war so laut, dass sie selbst erschrak. Winter holte tief Luft, dann atmete sie langsam aus. Sie wartete, bis sie sicher sein konnte, dass sie nicht gleich wieder losschreien würde. Es dauerte ein paar Sekunden.
    «Mom, ich bin dreißig Jahre alt», sagte sie mit ruhiger, fester Stimme. «Was bedeutet, dass ich von Zeit zu Zeit meine eigenen Entscheidungen treffe. Und ich habe mich dafür entschieden, weiter auf Tournee zu gehen.»
    «Ich mache mir doch nur Sorgen! Wenn irgendjemand dich mir wieder wegnehmen sollte …» Tränen standen in Carol Royces Augen. Winter trat vor und nahm ihre Mutter in die Arme, sie drückte sie fest an sich.
    «Schschscht», flüsterte sie ihrer Mutter ins Ohr. «Niemand nimmt mich dir weg …»
    «Wieder»? Was meinte sie mit «wieder»?
    Denk nicht darüber nach.
    «… ich pass schon auf mich auf. Versprochen, okay?»
    Carol Royce schniefte laut an Winters Hals, drückte sie noch einmal und machte sich dann los. «Ich hab dich furchtbar lieb.»
    «Ich dich auch.»
    «Womit habe ich nur so eine wundervolle Tochter verdient?»
    «Dad meinte, du hättest einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.»
    «Sehr komisch», sagte Carol Royce bitter, aber Winter sah, dass die Mundwinkel ihrer Mutter sich etwas hoben. Tatsächlich hätte es zu ihrem Vater gepasst, so etwas zu sagen – ein nicht sonderlich subtiler Seitenhieb gegen das dogmatische Christentum ihrer Mutter. Fast fünf Jahre war er nun schon tot, und noch immer kam es Winter vor, als wäre er gestern erst gestorben. Carol Royce wischte sich die Nase mit einem Taschentuch und küsste Winter sanft auf die Wange.
    «Ich warte im Foyer.»
    Als die Tür ins Schloss gefallen war, brach Winter zusammen. Augenblicklich kamen ihr die Tränen und rannen über ihre zarten Wangen. Fast eine Minute lang weinte sie lautlos. Schließlich trug sie sorgsam neues Make-up auf, weil sie nicht wollte, dass ihre Mutter die Tränen bemerkte.
    Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel und überlegte, was gewesen wäre, wenn sie damals auf ihre Mutter gehört hätte. Möglicherweise müsste sie heute nicht auf dem Präsentierteller leben. Aber vielleicht hätte es auch
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