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Gnosis

Gnosis

Titel: Gnosis
Autoren: Adam Fawer
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einen anderen Stalker gegeben … und alles wäre noch viel schlimmer gekommen.

KAPITEL 4
29. DEZEMBER 2007 – 17:18 UHR (54 STUNDEN, 42 MINUTEN BIS ZUR NACHT DES JÜNGSTEN GERICHTS)
     
    Endlich kam Elijah im Erdgeschoss an. Zwar brannten seine Beine, aber es war die Sache wert gewesen, die sechsundfünfzig Stockwerke zu Fuß zu gehen. Alles, bloß nicht den überfüllten Fahrstuhl zur Feierabendzeit nehmen. Nun stand er vor dem nächsten Hindernis – der Tür zur Lobby. Während Elijah allen Mut sammelte, hindurchzugehen, griff er nach seinem alten Walkman. Er hatte auch einen iPod, aber den benutzte er nur selten, weil es dem Gerät an einer entscheidenden Funktion mangelte, über die sein Sony verfügte: einen Audio-Fernsehempfänger.
    Er tippte die Kanäle durch, um eine vertraute Sendung zu finden. Das würde ihm helfen, seine Nerven zu beruhigen. Auf Kanal 11 lief Seinfeld. Elijah atmete aus. Er freute sich, wenigstens einen Teil seiner Umgebung unter Kontrolle zu haben. Schon nach dem ersten Satz wusste er, welche Episode lief. Elijah kniff die Augen fest zusammen. Um sich abzulenken, versuchte er, sich Elaines verzweifeltes Gesicht vorzustellen.
    «Sie hatte Männerhände», klagte Jerry.
    «Männerhände?», fragte Elaine.
    «Ja. Wie ein Wesen aus der griechischen Mythologie. Sie war halb Frau, halb Ungeheuer.»
    Elijah drückte die Tür auf und trat in die Lobby hinaus. Ein Fahrstuhl machte Pling und entließ eine weitere Horde in die riesige Halle. Elijahs Herz schlug schneller, als die Leute den Raum durchquerten, durch die Drehtüren gingen und sich draußen auf der Straße unter die Menschenmenge mischten. Wie benebelt wandte er den Blick vom Ausgang und starrte die Weihnachtsdekoration an.
    Mindestens fünfzig bunte Pakete stapelten sich unter dem Sieben-Meter-Baum. Elijah betrachtete die roten Schleifen auf den silbernen, roten und goldenen Schachteln und konzentrierte sich auf die weißen Lichter, die sich um die grünen Zweige rankten.
    So künstlich der Baum auch wirken mochte, war er doch ganz hübsch. Elijah dachte an die Weihnachtstage seiner Kindheit, wenn er schon vor dem Morgengrauen aufgewacht war und gewartet hatte, bis sein Darth-Vader-Digitalwecker 7:00 Uhr zeigte und er aus dem Bett hüpfen und seine Geschenke auspacken durfte.
    Die Erinnerung daran vermischte sich mit allen Weihnachtsfilmen und Fernsehserien, die er je gesehen hatte. Wie Alex P. Keaton Ellen unter dem Mistelzweig küsste. Wie Präsident Josiah Bartlett im Vorgarten Weihnachtslieder sang. Wie der Grinch Cindy Lou Whos Geschenke klaute. Wie Ralph Parker diese dämliche Wette annahm und mit der Zunge an dem gefrorenen Pfahl festklebte. Wie Fred Gailey stolz Kris Kringle vor Gericht verteidigte.
    Elijah atmete wieder halbwegs normal. Er sah zum Ausgang hinüber und zwang sich, loszugehen. Er konzentrierte sich auf George Costanzas knarzende Stimme. Es würde schon klappen. Solange sich Elijah auf Seinfeld konzentrierte, konnte er es durch das Chaos der lärmenden Stadt bis zum Hotel schaffen.
    Er zog seine schwarzen Lederhandschuhe an. Die kalte Witterung hatte auch ihr Gutes – er musste nicht erklären, wieso er draußen stets Handschuhe trug. Dann drückte er gegen das polierte Metall der Drehtür und tat einen Schritt nach vorn. Eine halbe Sekunde lang war Elijah wie im Fegefeuer, nicht drinnen und nicht draußen. Hätte er gewusst, was draußen auf ihn wartete, wäre er weiter im Kreis gelaufen, zurück in die sichere Lobby.
    Doch Elijah hatte keine Ahnung. Und so trat er auf den Bürgersteig hinaus, wo es vor Menschen wimmelte, und nahm die dunkelhäutige Frau überhaupt nicht wahr, die ihn von der anderen Straßenseite aus beobachtete.
     
    Im Schminkspiegel sah Winter, wie ihre Tür einen Spalt weit aufging. Sie wandte sich um, als ein Mann eintrat. Winter sah seine dunkle Brille und dachte, es sei der blinde
    (er war nicht immer blind gewesen)
    Mann, der Zuschauer vorhin. Doch dann sah sie seinen Teint – braungebrannt, gutaussehend, makellos. Das Gesicht verschwand fast unter der Kapuze seines grauen Sweatshirts, und doch hätte sie ihn überall erkannt.
    «Michael.»
    Er schob die Kapuze zurück und nahm die Sonnenbrille ab. Seine dunklen Augen schimmerten.
    «Hallo, Winter.»
    «Wie bist du an den Wachleuten vorbeigekommen?» Dann vorsichtig: «Hast du … jemanden verletzt?»
    «Natürlich nicht», sagte er und tat einen zögerlichen Schritt auf sie zu. Er wollte ihr Gesicht berühren, doch Winter
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