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Frostherz

Frostherz

Titel: Frostherz
Autoren: Bettina Broemme
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1. Kapitel
    Als sie aus dem Bus stieg, sah sie schon von Weitem den dunkelblauen Mercedes am Straßenrand stehen. Unwillkürlich beschleunigte sie ihren Schritt, blickte dabei auf die Uhr. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie versuchte sich zu erinnern, genau zu erinnern, aber alles war wie immer gewesen. Sie hatte ihm eine SMS geschrieben, als der Bus losgefahren war. Wie jeden Tag.
    Sie öffnete rasch die Tür des einstöckigen Eckreihenhauses mit dem Flachdach. Alles war still.
    »Johann?«, rief sie. »Papa?« Keine Antwort. Sie warf ihren Schlüssel in das kleine Teakholzschälchen auf dem Schuhschrank, hängte ihre Jacke auf und ging in die Küche. Niemand dort. Wie jeden Tag. Den Blick an die Decke hätte sie sich sparen können. Natürlich leuchtete das kleine rote Licht. Sie rief noch einmal.
    »Jemand da?«
    Dann sah sie durch die offene Wohnzimmertür seine dunkelbraune Nubuklederjacke auf dem Fußboden vor dem Essplatz liegen.
    »Papa?« Ihre Stimme zitterte nun leicht.
    Ihr Vater saß auf dem Sofa. Dem alten hellgrauen Sofa mit den dicken Kissen darauf. Auf dem Sofa, auf dem ihre Mutter die letzten Wochen gelegen hatte, bevor sie ins Krankenhaus gekommen war. Vorgestern waren es acht Jahre gewesen. Er saß ganz auf der Kante. Stierte vor sich auf den Beistelltisch, der mit Zeitungen übersät war. Der rechte Arm hing schlaff hinunter, in der linken Hand hielt er das Handy fest umklammert. Anne kniete sich vor ihn auf den Boden.
    »Was ist los?«, fragte sie und legte eine Hand auf sein Knie. Ganz langsam bewegten sich seine Augen in ihre Richtung. Er sah sie an, schwieg aber noch immer.
    »Papa«, rief sie nun eindringlich und da ging ein Ruck durch seinen Körper. »Was ist los?«
    Er legte das Telefon in einer schnellen Bewegung auf den Tisch, als müsse er etwas Ekliges, Schleimiges loswerden. Dann musterte er sie.
    »Deine Großmutter«, sagte er endlich. »Deine Großmutter ist tot.«
    Anne ließ sich auf ihre Füße zurückfallen. Sie griff nach Johanns Hand.
    »Wie? Wieso?« Ein kehliges Flüstern.
    Er legte seine Hand auf ihren Kopf und streichelte über ihre dunkelblonden Haare, wieder und immer wieder. Er zuckte hilflos mit den Schultern, seine Augen füllten sich mit Tränen.
    »Mich hat vorhin diese Caritas-Frau angerufen, die morgens immer zu ihr kommt«, sagte er sehr langsam.
    »Frau Reisinger?«
    »So heißt sie wohl. Sie hat sie gefunden. Sie lag im Esszimmer auf dem Boden. Ihr Herz hat einfach nicht mehr geschlagen.«
    Er senkte den Kopf. Anne sah, wie die Tränen dunkle Flecken auf seiner hellen Leinenhose hinterließen. Sie presste seine Hand, setzte sich endlich neben ihn.
    »Und jetzt?«, war das Erste, was ihr einfiel. Sie fühlte sich starr, kalt. Wie ein eben ausgeschalteter Kühlschrank. Johann hob die Schultern.
    »Ich bin vom Büro aus hin. Da war der Arzt schon da. Herzversagen. Sie haben sie dann…«
    Seine Stimme riss ab.
    »Papa, sie war seit vielen Jahren herzkrank«, versuchte Anne ihn zu trösten. »Sie war immerhin schon 74.«
    »Das ist doch kein Alter. Heutzutage.«
    Anne wusste nicht, was sie antworten sollte.
    »Wieder einer. Wieder einer, der mich verlässt. Ich habe ihr nicht helfen können.« Jetzt schluchzte er. Sie ließ seine Hand los und stand auf.
    »Auch ein Wasser?«, hörte sie sich. Die eigentliche Frage hätte lauten müssen: »Warum bist du so traurig?« Doch diese Frage wagte sie nicht zu stellen. Warum war ihr Vater so fassungslos – über den Tod einer Frau, mit der er seit Jahren nicht mehr als das Allernotwendigste gesprochen hatte? Die er gemieden hatte wie der Teufel das Weihwasser? Für die er immer nur harte Worte gefunden hatte?
    Eiskalt lief ihr das Wasser die Kehle hinunter. Sie fragte sich, wo ihre Tränen blieben, wieso sie selbst nicht traurig war.
    Das erste Bild, das ihr in den Kopf kam, war das so typische Gesicht ihrer Großmutter Annemarie (von deren Namen sie den ersten Teil geerbt hatte). Die Lippen schmal und fest aufeinandergepresst, die weiß-grau melierten Haare streng aus dem Gesicht gekämmt und zu einem Dutt aufgesteckt, die blauen Augen kalt und von den Lidern beschwert – als müsse sie immer dagegen ankämpfen, die Augen ganz zu schließen. Ihre Körperhaltung war meist abweisend, oft saß sie in ihrem senfgelben Sessel mit dem kratzigen Bezug, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte vor sich auf den Perserteppich. Gelegentlich hatte sie unsichtbare Falten aus ihrem meist hellblauen Rock
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