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Gnadentod

Gnadentod

Titel: Gnadentod
Autoren: Jonathan Kellerman
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Sie mir ruhig bei - ihr Typen macht das doch alle so, noch einer dieser kleinen Tricks, die sie euch in der Psychofritzenschule beibringen. Wussten Sie, dass Becky Psychologin werden will? Was halten Sie denn davon?«
    »Ich kenne Becky nicht, aber auf Anhieb klingt es gut.«
    »Warum klingt es gut?«, wollte sie wissen. »Weil Menschen, die eine Krise durchgestanden haben, eine besondere Art der Einfühlsamkeit entwickeln können.«
    »Können?«
    »Manchmal kommt es zu einer entgegengesetzten Reaktion. Ich kenne Becky nicht.«
    »Becky ist wunderbar - ein wunderbarer Mensch. Wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, selbst Vater zu werden, hätten Sie vielleicht den Hauch einer Ahnung.«
    »Sie haben wahrscheinlich Recht«, sagte ich. »Das meine ich ernst.«
    »Man muss sich das mal vorstellen«, sagte sie, als spräche sie mit sich selbst. »Sie tragen dieses Geschöpf neun Monate lang in Ihrem Innern, reißen Ihren Körper auf, wenn Sie es ausstoßen, und dann geht die richtige Arbeit erst los. Haben Sie eine Ahnung, was es Ihnen abverlangt, heutzutage in dieser beschissenen urbanisierten Welt, die wir geschaffen haben, die einen überfüttert und überreizt, ein Kind großzuziehen? Haben Sie den geringsten Schimmer?«
    Ich blieb still.
    »Denken Sie mal drüber nach: Sie machen das alles durch, füttern sie mit Ihrem Körper, stehen mitten in der Nacht auf, wischen ihnen den Arsch ab, bringen sie durch all die Wutanfälle und all die verletzten Gefühle und die schlechten Angewohnheiten, bringen sie durch die Pubertät, Herr im Himmel, und dann kommt jemand daher - jemand, dem Sie vertrauen - und sabotiert das alles.«
    Sie sprang auf und ging hinter ihrem Schreibtisch auf und ab.
    »Ich sage Ihnen kein verdammtes bisschen, und selbst wenn ich es täte, könnten Sie kein Wort davon wiederholen - und glauben Sie mir, wenn ich auch nur die leiseste Andeutung davon mitbekomme, dass Sie irgendjemandem - Ihrer Frau oder sonst z’rgewdjemandem - gegenüber was davon verlauten lassen, dann sorge ich dafür, dass Sie Ihre Zulassung verlieren.«
    Sie durchquerte das Zimmer, ging wieder zurück und setzte zu einer weiteren Runde an.
    »Stellen Sie sich vor, Doktor: Sie stecken all das in einen anderen Menschen, vertrauen sie jemandem an, den sie ihr ganzes Leben lang gekannt hat. Jemandem, dem Sie schon häufiger einen Gefallen getan haben, und worum bitten Sie ihn? Um Nachhilfestunden, blöde Nachhilfestunden, weil das Mädchen zwar klug ist, aber Zahlen eben … Mathematik - nur Mathematik, nicht das kleinste gottverdammte bisschen sonst. Und dann kommen Sie nach Hause und finden diese Person mit - mit Ihrem Liebling, diesem Schatz, den Sie mit so großer Sorgfalt geformt haben, und sie hat ihn zertrümmert … neben dem Swimmingpool, dem gottverdammten Swimmingpool. Und wo sind die Mathebücher? Wo sind die Unterrichtsunterlagen? Sie werden nass auf der Terrasse neben dem Pool, während sie … die nassen Badeanzüge liegen zusammengerollt … oh, das würden Sie einfach großartig finden, nicht wahr? Sie würden das durchgehen lassen, stimmt’s?«
    »War es das erste Mal?«, fragte ich.
    »Joanne hat behauptet, ja - Becky auch, aber sie haben beide gelogen. Becky kann ich das nicht zum Vorwurf machen, sie hat sich geschämt - nein, es war nicht das erste Mal, mir war klar, dass es nicht das erste Mal gewesen sein konnte. Weil es plötzlich alle möglichen Dinge erklärte. Ein Mädchen, das immer mit mir redete und das, nachdem es sechzehn geworden war und anfing, Nachhilfestunden zu bekommen, auf einmal nicht mehr mit mir redete. Ein Mädchen, das plötzlich grundlos zu weinen anfing, das Haus verließ und uns nicht sagte, wo es hinging - ihre Noten wurden immer schlechter, trotz der Nachhilfestunden -, sie war sechzehn, Alex, und dieses Miststück hat sie vergewaltigt] Was weiß ich, vielleicht ist das schon jahrelang so gegangen.«
    »Haben Sie jemals mit Becky darüber geredet, nachdem Sie sie überrascht haben?«
    »Wozu? Sie musste geheilt und nicht beschämt werden.«
    Sie setzte ihre Wanderung durch das Zimmer fort.
    »Und kommen Sie mir nicht mit diesem anklagenden Tonfall. Ich kenne das Gesetz, und nein, ich habe keine Anzeige erstattet«, sagte sie. »Was wäre damit erreicht worden? Das Gesetz ist ein Esel, glauben Sie mir, ich sitze dort draußen und höre es jeden gottverdammten Tag schreien.«
    »Und Bob?«
    »Bob hasst Joanne, weil er glaubt, sie hätte sich geweigert, Becky weiter Nachhilfe zu geben,
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