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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Julie Garwood
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worüber sie sich freuen konnte.
    Nachdem er an manchen Abenden die Pralinen gekauft hatte, kehrte er in sein Büro zurück und arbeitete, bis ihn die Müdigkeit übermannte und er somit gezwungen war, nach Hause zu gehen. Wenn er sein BMW-Cabrio durch St. Charles zum Garden District von New Orleans steuerte, fing er unweigerlich an zu zittern, als litte er unter Unterkühlung. Aber er fühlte sich nicht wirklich körperlich schlecht, bis zu dem Moment, da er die in Schwarz und Weiß gehaltene Diele seines Hauses betrat. Er hielt die Pralinenschachtel in der Hand, stellte seinen Aktenkoffer auf den kleinen Tisch und blieb eine Weile lang vor dem goldgerahmten Spiegel stehen, um tief durchzuatmen. Diese Übung hatte ihn zwar noch nie beruhigt, aber er folgte Abend für Abend dieser Gewohnheit. Seine schweren Atemzüge verschmolzen mit dem Ticken der alten Uhr, die neben dem Spiegel an der Wand hing. Dieses Tick-Tack-Tick-Tack erinnerte ihn an den Zeitzünder einer Bombe. Eine Bombe, die in seinem Kopf steckte und kurz davor war zu explodieren.
    Er schalt sich selbst einen Feigling und zwang sich, die Stufen hinaufzugehen. Während er langsam die geschwungene Treppe erklomm, verspannten sich seine Schultern, und sein Magen knotete sich zusammen. Seine Beine fühlten sich an, als wären sie einzementiert. Sobald er das Ende des langen Flurs erreichte, standen ihm die Schweißperlen auf der Stirn, und seine Haut war feucht und kalt.
    Er wischte sich die Stirn mit dem Taschentuch ab, setzte ein künstliches Lächeln auf und öffnete die Tür. Dabei wappnete er sich nach Kräften gegen den ekligen Gestank, der ihm entgegenschlug. Der schwere Vanilleduft des Luftverbesserers, den die Mädchen im Raum versprühten, machte alles nur noch schlimmer. Manchmal war es so arg, dass er unter dem Vorwand, noch etwas erledigen zu müssen, wieder aus dem Zimmer floh, bevor Catherine hören konnte, wie er würgte. Er gab sich die größte Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie groß sein Abscheu war.
    An anderen Abenden blieb sein Magen standhaft. Während er sich vorbeugte und Catherine einen Kuss auf die Stirn gab, schloss er jedes Mal die Augen, dann zog er sich zurück und redete hektisch drauflos. Er blieb neben dem Laufband stehen, das er ein Jahr nach der Hochzeit für sie gekauft hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, ob sie es jemals benutzt hatte. Ein Stethoskop und zwei vollkommen identische weite Morgenmäntel aus Seide mit dezentem Blumenmuster hingen jetzt über den Griffen. Und auf dem breiten schwarzen Vinylband lag eine dicke Staubschicht. Die Dienstmädchen schienen nie daran zu denken, es sauber zu machen. Manchmal, wenn John es nicht ertragen konnte, Catherine anzuschauen, drehte er sich um und schaute aus den palladinischen Fensterbögen auf den sanft beleuchteten englischen Garten hinter dem Haus, der wie alle anderen kleinen Gärten in diesem Viertel mit einem schmiedeeisernen Zaun eingefasst war.
    Der Fernseher dröhnte. Er war vierundzwanzig Stunden lang entweder auf einen Sender mit Talkshows oder auf einen Homeshopping-Kanal eingestellt. Catherine kam es nie in den Sinn, den Ton leiser zu drehen, wenn sich John mit ihr unterhielt, und er hatte mittlerweile den Punkt erreicht, an dem es ihm gelang, die lauten Stimmen zu ignorieren. Er wunderte sich dennoch oft über Catherine. Wie konnte sie sich bloß Stunde um Stunde um Stunde dieses Gefasel anhören? Es hatte eine Zeit gegeben – bevor die Krankheit die Herrschaft über ihr Leben und ihre Persönlichkeit übernahm –, in der sie als Intellektuelle galt, die jeden Gesprächspartner mit einer ihrer unglaublich schlagfertigen Antworten mundtot machen konnte. John erinnerte sich daran, wie sehr sie es geliebt hatte, über Politik zu diskutieren – man brauchte ihr nur einen überzeugten Konservativen an ihren makellos gedeckten Tisch zu setzen und erlebte garantiert ein regelrechtes Feuerwerk an Argumenten –, aber jetzt hatte sie nur noch ein Gesprächsthema und eine Sorge: ihr Verdauungssystem. Und natürlich das Essen. Sie war immer sehr erpicht darauf, über die nächste Mahlzeit zu reden.
    John dachte oft an ihren Hochzeitstag vor sieben Jahren zurück und rief sich ins Gedächtnis, wie leidenschaftlich er Catherine begehrt hatte. Heute fürchtete er sich davor, mit ihr im selben Zimmer zu sein. Er schlief mittlerweile im Gästezimmer. Seine seelische Qual brannte wie Säure in seinem Magen, sie schien ihn bei lebendigem Leibe
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