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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Julie Garwood
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kennen gelernt hast. Ich weiß, du hast mir die Geschichte schon hundertmal erzählt, aber ich höre sie so gern.«
    Michelle wollte ihn offensichtlich vom Thema abbringen. »Wir sprechen im Augenblick nicht über deine Mama und mich. Wir reden über dich. Ich möchte dir jetzt eine wichtige Frage stellen. Leg deine Angel weg und hör zu!«
    Michelle tat wie geheißen, faltete die Hände im Schoß und wartete. Sie ist eine echte kleine Lady, dachte Jake. Obwohl sie mit drei schwerfälligen Mauleseln zusammenlebt.
    »Wenn du alles erreichen könntest, alles, was es auf der Welt gibt, was würdest du dann am liebsten sein?«
    Michelle legte die Fingerspitzen so zusammen, dass ihre Hände ein steiles Dach bildeten. Jake zupfte an ihrem Pony, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. »Du brauchst dich nicht vor deinem Dad zu schämen. Du kannst es mir ruhig sagen.«
    »Ich schäme mich nicht.«
    »Doch, dein Haar ist schon ganz rot, genau wie deine Sommersprossen.«
    Sie kicherte. »Meine Haare waren schon immer rot, und meine Sommersprossen können die Farbe gar nicht ändern.«
    »Willst du es mir nun sagen oder nicht?«
    »Du musst mir versprechen, dass du nicht lachst.«
    »Bestimmt nicht.«
    »Remy und John Paul würden auf jeden Fall lachen.«
    »Deine Brüder sind manchmal Idioten. Sie lachen über alles und jeden, aber du weißt hoffentlich, dass sie dich lieben, und sie würden hart dafür arbeiten, dass du immer das bekommst, was du dir wünschst.«
    »Ich weiß«, sagte sie.
    »Also, was willst du werden? Du weißt es schon, oder?«
    »Ja«, gab sie zu. Sie sah ihm direkt in die Augen, um sicherzugehen, dass er nicht lachte. Dann flüsterte sie: »Ich werde mal Ärztin.«
    Er verbarg seine Überraschung und sagte kein Wort.
    »Und warum willst du Ärztin werden?«, fragte er schließlich. Die Idee gefiel ihm.
    »Weil ich dann vielleicht … Dinge reparieren könnte. Ich habe lange darüber nachgedacht – seit ich klein war.«
    »Du bist immer noch klein!«, sagte er. »Und Ärzte reparieren Menschen, keine Dinge. Sie heilen.«
    »Das weiß ich, Daddy«, erwiderte Michelle mit einer Autorität, die ihn zum Lächeln brachte.
    »Und hast du schon jemanden im Kopf, den du heilen möchtest?«
    Big Daddy legte den Arm um die Schultern seiner Tochter und zog sie an sich. Er kannte die Antwort bereits, aber er wollte, dass sie es aussprach.
    Sie schob sich den Pony aus den Augen und nickte bedächtig. »Ich dachte, ich könnte vielleicht Mamas Kopf reparieren. Dann kann sie wieder zu uns nach Hause kommen.«

1
    Der erste Mord war eine Tat der Barmherzigkeit.
    Sie starb einen sehr langsamen Tod. Jeden Tag verlor sie mehr an Würde, jeden Tag wurde ein weiteres Stück ihres einst prachtvollen Körpers von der Krankheit zerstört. Arme Catherine! Noch vor sieben Jahren war sie eine wunderschöne Braut mit einer vollendeten Figur gewesen, die die Männer lüstern und die Frauen neidisch machte, aber jetzt war sie dick und aufgeschwemmt, und ihre frühere Alabasterhaut sah fleckig und bleich aus.
    Manchmal erkannte ihr Mann John sie gar nicht mehr wieder. Er erinnerte sich daran, wie sie einmal ausgeschaut hatte, und dann sah er mit erschreckender Klarheit, was aus ihr geworden war. Diese wunderbaren, funkelnden grünen Augen, die ihn bei der ersten Begegnung gefangen genommen hatten, waren jetzt glasig und milchig von den vielen Schmerzmitteln.
    Die Krankheit verlief schleichend, und für John gab es keinen einzigen Moment der Erleichterung.
    Er fürchtete sich regelrecht davor, abends nach Hause zu kommen. Er machte immer in der Royal Street Halt, um zwei Pfund Godiva-Pralinen zu kaufen. Es war ein Ritual, das er vor Monaten eingeführt hatte, um Catherine zu zeigen, dass er sie trotz ihres Aussehens noch immer liebte. Er hätte sich die Schokolade natürlich täglich ins Haus liefern lassen können, aber wenn er sie selbst besorgte, konnte er den Zeitpunkt, an dem er ihr wieder gegenübertreten musste, ein wenig hinauszögern. Am nächsten Morgen lag die beinahe völlig leere goldene Schachtel für gewöhnlich in der großen Porzellandose, die neben dem breiten Himmelbett bereitstand und für den Abfall vorgesehen war. John tat so, als bemerke er nicht, dass Catherine die Süßigkeiten in sich hineingestopft hatte, und sie tat ebenfalls so, als sei nichts passiert.
    John schimpfte nicht mehr wegen ihrer Gefräßigkeit. Die Pralinen machten sie glücklich, und in ihrem düsteren, tragischen Leben gab es nicht mehr viel,
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