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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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prügelte, dann hätte er sich damals geprügelt. Er wäre aufgestanden, hätte eine Hand zur Faust geballt und Geir Hernes zu Boden geschlagen. Nicht so sehr wegen des Gesagten. Sondern, weil er Mais Gesicht berührt hatte, weil er seinen fetten Finger auf Mais Gesicht gedrückt hatte, so fest, dass das Foto bis zum heutigen Tag von diesem kleinen Fingerabdruck gezeichnet ist. Aber Johan war kein Mann, der sich prügelte. Er prügelte sich nicht mit anderen Männern, er prügelte sich nicht mit seinen zwei Frauen, weder mit der Toten, die er nicht mochte, noch mit der Lebenden, die er mochte, und er prügelte sich auch nicht in den Zeitungsspalten.
Als er im Alter von vierundsechzig Jahren pensioniert wurde, hatte er das Gefühl, in seinem Leben fast noch nichts von Bedeutung geschrieben zu haben. Und das war keine Koketterie. Kollegen und Leser hätten ihm voll und ganz zugestimmt.
    Vor vielen Jahren hatte er einmal eine Artikelserie geschrieben, die im Kreis der Gelehrten und allseits Respektierten Aufsehen erregt hatte. Es handelte sich um sechs Artikel – manche nannten sie Essays –, die an sechs aufeinander folgenden Samstagen genüsslich im Feuilleton abgedruckt worden waren. Sämtliche Artikel handelten von William Faulkner: dem Autor, dem Menschen und dem Betrüger. Daneben gelang es ihm, etwas Wesentliches über die amerikanische Literatur und Gesellschaft verglichen mit der norwegischen Literatur und Gesellschaft zu vermitteln. Es war eine hervorragende Arbeit. Die Aufmachung war groß, autoritativ und sorgfältig illustriert mit alten Fotos und Faksimiles, und noch nie hatte er so viel Lob von Menschen bekommen, auf deren Lob er Wert legte. Er wurde von Persönlichkeiten des kulturellen Lebens angerufen, die sagten, er habe nicht nur ein neues Licht auf das Werk William Faulkners geworfen, er habe auch den Standard für literarische Analysen angehoben. Johan Sletten habe schlicht und einfach dank seiner sehr persönlichen und kenntnisreichen Abhandlung über William Faulkners Leben und Lebenswerk etwas über die Kunst des Lesens an
sich gesagt. Aber das war lange her. Jetzt wurde die Artikelserie von niemandem mehr erwähnt. Niemand unterhielt sich mit ihm über die Kunst des Lesens. Bisweilen wurden an der Universität Seminare über William Faulkner organisiert, aber Johan Sletten wurde nicht eingeladen.
    Und nun war es vorbei. Nun war es zu Ende. Das Verhältnis zwischen Johan Sletten und den norwegischen Zeitungslesern war Geschichte. Er sollte in den Ruhestand treten.
    Obwohl »in den Ruhestand treten« im Übrigen eine nette Art war, es auszudrücken. Er war aufgefordert worden zu gehen. Er hatte ein Angebot erhalten, das er nicht ablehnen konnte. Er wurde entlassen, gefeuert, geschasst, erhielt seinen Abschied auf grauem Papier.
    Es hatte damit begonnen, dass er die deutsche Rezension eines kleinen lettischen Romans gelesen hatte. Er war neugierig geworden. Johan war, und das wurde bei seinem Begräbnis nicht zur Genüge betont, ein neugieriger Mensch. Er kaufte sich den Roman in dänischer Übersetzung, las ihn und brach in Tränen aus. Er wollte allen Menschen im Lande Norwegen oder zumindest allen Lesern seiner Zeitung vermitteln, dass sie um jeden Preis in die Buchhandlung eilen und sich diesen Roman kaufen sollten. Er setzte sich hin und fing an zu schreiben, aber die Worte genügten nicht. Sie wirkten klein und zaghaft und
nichts sagend, wie jene dummen Fliegen, die sich in den Farben der Wespen kleiden und glauben, sie würden dadurch gefährlicher werden. Es war schrecklich, denn mit jedem Wort, das er schrieb, machte er den Roman, den er preisen wollte, trivialer. Und deshalb tat er etwas, was er noch nie zuvor getan hatte. Er übersetzte die deutsche Besprechung des Romans, versah die Kritik mit seinem eigenen Namen und schickte sie zur Montage. Die Kritik, die in einer kleinen deutschen Literaturzeitschrift mit einer Auflage von eintausendfünfhundert Exemplaren erschienen war, war in jeder Beziehung glänzend. Johan hatte keine Ahnung, wer sie geschrieben hatte. Die Signatur lautete J.I.S. Fast seine eigenen Initialen. Er hatte zwar kein »I« in seinem Namen, aber wen kümmert’s? Der Punkt war, dass die Besprechung von J.I.S. genau zum Ausdruck brachte, was Johan bei der Lektüre des Buches empfunden hatte, und J.I.S. vermittelte es, ohne dabei in ... ja,
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