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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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leben wir in Saus und Braus. Du sollst alles bekommen, was du willst.
    Und dann wurde sie angefahren und starb.
    Viele trauerten um Alice. Sie war offensichtlich eine beliebte Frau gewesen, dachte Johan verwundert. Ganz hübsch, wie gesagt. Und jung! Zu jung, um zu
sterben, sagten die Leute. Aber das sagt man über alle, die vor einem gewissen Alter sterben. Ist man unter fünfundsiebzig, ist man zu jung, um zu sterben, ist man unter fünfundvierzig, ist es eine Tragödie. Eine große und unbegreifliche Tragödie. Alice war weit unter fünfundsiebzig und nicht sehr viel über fünfundvierzig. Viele gaben Johan die Hand und flüsterten ihm zu, dass Alices Ableben eine große und unbegreifliche Tragödie sei. Und jedes Mal verspürte er den unbändigen Drang zu schreien, nein, das stimmt nicht! Du verstehst nicht! Sie hat mich gequält!
    Â 
    Wer am meisten um sie trauerte, war ihr Sohn Andreas.
    In der ersten Zeit nach dem Begräbnis versuchte Johan, sich ihm zu nähern, diesem niedergeschlagenen, pickeligen und fremden Jungen, der ihn Papa nannte. Sie gingen zusammen essen, er besuchte seinen Sohn ein paar Mal in seinem Zimmer, sie versuchten es sogar an einem Sonntagnachmittag mit einer Skitour. Und eines Tages über einem Steak mit Sauce béarnaise im Theatercafé sah der Sohn zu seinem Vater auf und sagte:
    Â»Papa!«
    Johan nickte. Da war es wieder. Dieses winzige höhnische Lächeln, jedes Mal, wenn sein Sohn das Wort Papa aussprach. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, wer von ihnen beiden zuerst höhnisch gelächelt hatte oder wo sich das Höhnische zum ersten Mal gezeigt
hatte, ob es beim Lächeln seines Sohnes gewesen war oder bei seinem eigenen.
    Â»Papa«, wiederholte Andreas.
    Johan legte sein Besteck auf den Teller.
    Â»Willst du etwas sagen, Andreas?«
    So war es immer. Gespräche über nichts. Der Junge brachte keinen Satz zu Ende.
    Â»Ich weiß nicht«, antwortete Andreas. »Ganz bestimmt will ich es. Ich will etwas sagen. Ich schaffe es nur nicht.«
    Â 
    Als Andreas ein Kind war, war er so schmächtig wie sein Vater.
    Der kleine Knabenkörper hatte etwas Durchscheinendes und Zerbrechliches an sich.
    Alice hatte einmal gesagt, der Sohn erinnere sie an eine Amöbe. Vielleicht war es das Amöbenhafte an Andreas, weshalb andere Kinder gerne versucht waren, ihn zu verprügeln.
    Â 
    Johan sah es so, dass er nicht viel Glück mit den Menschen gehabt hatte. Jedenfalls nicht, bevor er seine Frau Nummer zwei kennen lernte: Mai. Es war wie in diesem Lied. Sie erinnerte ihn an dieses Lied. Und vielleicht sollte man Lieder und Verliebtheit nicht vermischen? Man weiß selten, was was ist. Und mitunter habe ich mich gefragt, ob dieser Gedanke Johan in den letzten Tagen seines Lebens gekommen ist:
dass er im Grunde seine eigene Verliebtheit mit einem Lied verwechselt hat.
    Wer rudert in stürmischer See hierher?
Ein Fräulein, Herr Flinck, kommt allein übers Meer!
Es bläst, der Nordwestwind brüllt los!
Wer ist dieses Fräulein? Sie schlägt wie ein Mann.
Es ist Maj von Malö, sie zieht alle in Bann.
So hör meinen Walzer bloß.
    Mai und Johan heirateten im Frühjahr 1979, zwei Jahre nach Alices Tod. Damals war Mai dreißig und Johan siebenundvierzig.
    Johan käme nie auf die Idee, Mai mit einem Pferd oder mit irgendeinem anderen Tier zu vergleichen. Wenn Johan sie beschreiben sollte, würde er sagen, sie sei seine Gnade.
    Einmal vor langer Zeit, als Mai ein junges Mädchen war, wollte sie Konzertpianistin werden. Aber Mais Vater, der Musiker war, sagte, sie solle es lieber lassen. Mai sei nicht begnadet, sagte er. Sie sei fast gut genug. Nicht gut genug, sondern nur fast. Und fast war nicht gut genug, weder für Mai noch für Mais Vater. Deshalb gab sie die Musik auf und begann stattdessen, Medizin zu studieren.
    Sie spielte noch immer manchmal Klavier. Am liebsten Schumann, aber nur zum Spaß, sagte sie dann, nicht im Ernst.

    Mai unterschied häufig zwischen dem, was sie zum Spaß machte, und dem, was sie ernsthaft betrieb.
    Â»Das war nun einmal mein Traum«, sagte sie. »Ich wollte Klavier spielen. Ich hatte kein Talent. Ich war ziemlich gut. Aber ich würde niemals richtig gut werden. Mir fehlte ... das .«
    Mai hob die Hände und fuchtelte mit den Fingern vor dem Gesicht herum.
    Â»Mir fehlte ...«
    Â»Die Gnade?«
    Â»Dieses Wort mag ich nicht.
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