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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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einer großen, schwarzen Handtasche, die über ihrer Schulter hängt, holt den kleinen lettischen Roman in dänischer Übersetzung
heraus und sagt: »Es kommt nicht sehr oft vor, dass mich eine Besprechung in der Zeitung dazu bringt, in die nächste Buchhandlung zu laufen und ein Buch zu kaufen.« Sie flüstert das Wort Zeitung mit einer leicht aufgebrachten, verschwörerischen Miene, wie um Johans und ihre gemeinsame Verachtung für das niedrige intellektuelle Niveau der Tageszeitungen zu illustrieren.
    Â»Doch Ihr Text hat mich dazu gebracht«, sagt sie. Sie richtet die braunen Augen auf Johan. »Ihr Text hat mich berührt.«
    Gesegnet sei Dolores. Er strich ihr über das Haar. Das hatte er noch nie erlebt. Von einer bildhübschen jungen Frau bewundert zu werden. Es ist nicht vielen Männern vergönnt, von bildhübschen, jungen Frauen bewundert zu werden, die überdies noch Dolores heißen. Doch Johan Sletten hatte das Glück, und einen Moment lang vergaß er die Umstände – ja, zwang er sich, sie zu vergessen. Die bildhübsche junge Dolores bewunderte ihn, und er strich ihr über die Haare, die womöglich noch schöner waren als Mais Haare, und sie ließ ihn gewähren.
    Er entkam ihr, bevor sie es erfuhr. Und der Gedanke, sie wieder zu sehen, ihren Blick in diesem Moment, ihren Blick, nachdem sie es erfahren hatte, nachdem jemand sie beiseite genommen und es ihr ins Ohr geflüstert hatte, von Angesicht zu Angesicht. Sein Leben war nie ein Ausbund an Würde gewesen. Aber
der Demütigung, Dolores noch einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, wollte er sich nicht aussetzen.
    Und das war der Grund dafür, dass Johan das Angebot des Chefredakteurs für eine vorzeitige Ruhestandsregelung akzeptierte und seinen Fuß nie wieder in das Gebäude der Zeitung setzte.
    Â 
    Mai war jünger als Johan. Als sie sich kennen lernten, war sie dreißig. Als er starb, war sie dreiundfünfzig. In den letzten Monaten seines Lebens hatte er ein großes Eitergeschwür auf der linken Wange.
    Einmal bat er sie um einen Spiegel und sie holte einen Taschenspiegel aus ihrer Handtasche, den sie ihm hinhielt.
    Â»Ich verstehe nicht, was du in mir siehst«, sagte er daraufhin. »Ich bin hässlich und alt und werde bald sterben.«
    Â»Aber du bist nun einmal mein Johan, und ich habe dich lieb«, sagte sie.
    Oft dachte Johan, Mai sei seine Gnade. Sie war seine Gnade, und er war ihre Bürde. Du bist nun einmal mein Johan. Ein Kind hätte ihre gemeinsame Bürde sein können, aber sie wollte das Kind nicht haben. Sie wollte nur Johan.
    Â 
    Am gleichen Abend noch, an dem Johan bei der Zeitung entlassen worden war, erzählte er Mai von dem

    Plagiat. Er lag im Bett, sie stand vor dem Spiegel und bürstete ihre langen Haare, die ganz grau waren, aber immer noch voll und glänzend.
    Â»Warum hast du so schöne Haare?«, hatte er sie einmal gefragt.
    Â»Weil ich sie jeden Abend und jeden Morgen hundert Mal bürste. Zuerst beuge ich mich ganz tief hinunterso!«, sagte sie und bückte sich, um es ihm zu zeigen, »und dann fahre ich mit der Bürste durch die Haare, ein-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben Mal, bis ich hundert erreiche. So!«
    Genauso stand sie da, als er ihr von dem Plagiat erzählte. Vornübergebeugt lauschte sie – und zählte zugleich das vorsichtige Gleiten der Bürste durch die Haare.
    Als er zu Ende erzählt hatte, hatte sie immer noch 38 Kämmvorgänge vor sich, und diese vollzog sie langsam, konzentriert, ohne ein Wort zu sagen. Dann kam der Augenblick, den Johan normalerweise liebte, wenn sie den Kopf nach hinten warf und die Haare auf ihren Platz fielen, sich um ihr Gesicht und auf die Schultern verteilten. Dann betrachtete sie sich für gewöhnlich im Spiegel und lächelte.
    Doch an jenem Abend, an dem er ihr von dem Plagiat erzählte, lächelte sie sich nicht im Spiegel zu.
    Stattdessen sagte sie: »Du Ärmster.« Immer noch dem Spiegel zugewandt. Und dann drehte sie sich um, ging durch das Zimmer und setzte sich auf die Bettkante. Das Nachthemd war dünn und blau und mit
kleinen weißen Sternchen verziert. Sie war barfuß. Sie roch gut. Johan lehnte den Kopf an ihre Schulter.
    Â»Verachtest du mich, Mai?«
    Â»Niemals«, sagte sie und schlang die Arme um ihn.
    Â»Niemals!«
    Â 
    Eine nahezu identische Szene trug sich
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