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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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Es ist ...«
    Â»Du bist meine Gnade. Ich bin begnadet, weil du mich haben willst.«
    Â»Ach was, Johan. Können wir nicht einen Schritt nach dem anderen tun? Und dabei weniger hochtrabende Worte verwenden.«
    An einem sonnigen Tag, kurz nachdem sich Mai und Johan kennen gelernt und dieses Gespräch geführt hatten, schoss Johan ein Foto von Mai. Sie sitzt auf einer Bank im Frognerpark. Sie trägt Jeans und eine Hemdbluse und hat die langen blonden Haare in einem Zopf gesammelt.
    Damals hatte sie noch eine Ponyfrisur und sah trotz ihrer dreißig Jahre aus, als wäre sie gerade neunzehn geworden, was bisweilen zu mehr oder weniger komischen Szenen an ihrem Arbeitsplatz führte. Mai, die Kinderärztin war, wurde selbst für ein Kind gehalten.

    Auf dem Foto ist sie blass, fast ein bisschen fahl im Gesicht, sie hat braune Augen, eine volle Unterlippe und eine große, krumme Nase. Als sie noch jung war, schämte sie sich für ihre Nase. Aber je älter sie wurde, desto weniger kümmerte es sie. Es kam ihr vor, als würde sich ihr Gesicht zurechtwachsen, sich darauf vorbereiten, eine solche Nase zu tragen, als wäre sie ein wertvolles Schmuckstück.
    Â»Sie trägt ihre Nase mit der gleichen lässigen Weiblichkeit, wie Bette Davis im Film All About Eve ihren Nerzmantel trägt«, sagte Johan einmal.
    Es verging fast kein Tag, an dem er sich nicht das Foto von Mai anschaute.
    Aber er zeigte es niemandem. Nur einmal, strotzend vor Freude darüber, dass diese Frau eingewilligt hatte, mit ihm zu leben und zu schlafen, holte er das Bild hervor und zeigte es seinen drei männlichen Kollegen, die auch seine einzigen drei Freunde waren.
    Johan war Journalist bei einer großen norwegischen Zeitung und hatte sich gerade für die Stelle des Feuilletonchefs beworben, ihm war aber ein mäßig gebildeter Literaturenthusiast vorgezogen worden, der in der Redaktion unter dem Namen Klodeckel lief. Der Chefredakteur soll gesagt haben, Johan stünde »unter allzu großer Trauer« über Alices tragischen Tod vor zwei Jahren und sei in keinster Weise in der Lage, einen derart anspruchsvollen und wichtigen Posten wie den des Feuilletonchefs der drittgrößten norwegischen
Zeitung auszufüllen. (Der Chefredakteur wusste nicht, dass Alice für Johan nur als Zwangsvorstellung existierte und dass er jetzt Mais wegen in Gnade lebte.)
    Doch das war nicht der Punkt.
    Was ich erzählen wollte, ist Folgendes.
    Johan und seine drei Kollegen, die auch seine einzigen Freunde waren, saßen gerade an einem Cafétisch, tranken Bier und sprachen über eine junge Romandebütantin, die alle für sehr begabt hielten, als Johan plötzlich mit triumphierendem Gesichtsausdruck das Foto von Mai auf den Tisch knallte. Seine drei Kollegen (Ole Torjussen, Geir Hernes und Odd Karlsen – allesamt mittelmäßige Feuilletonjournalisten, auch wenn Ole Torjussen jetzt tot ist), beugten sich über das Bild und sahen es verständnislos an. Sie verstanden es alle falsch. Sie glaubten, Mai sei die Romandebütantin. Wie gesagt, sie sah auf dem Foto sehr jung aus. Und dann sagte Ole Torjussen, oder vielleicht war es Odd Karlsen: »Hübsch ist sie jedenfalls nicht!« Und dann sagte Geir Hernes, der gleichzeitig versuchte, einen Hustenanfall zu unterdrücken: »Ich finde, das Mindeste, was man von unseren Romandebütantinnen verlangen kann, ist, dass sie hübsch sind. Die hässlichen wie diese hier«, er tippte mit einem angeknabberten, zigarettengelben Zeigefingernagel auf Mais Gesicht, »sollten von Geburt an abgelehnt werden.«
    Johan nahm das Bild wieder an sich, ihm war heiß im
Gesicht und er hatte den plötzlichen Drang, laut loszuheulen, wie damals, als ihm als Kind ein Eimer mit Walderdbeeren in den Bach gefallen war. Doch er blieb ganz ruhig sitzen. Sagte nichts. Weder Ole Torjussen noch Geir Hernes oder Odd Karlsen merkten, dass etwas nicht stimmte, sie hatten alle schon einiges getrunken. Johan sorgte auch nicht dafür, das Missverständnis aufzuklären. Einen Augenblick später war die Romandebütantin samt dem Bild vergessen. Später überlegte er, dass er hätte sagen sollen: Es ist ihre Art, sich zu bewegen. Er hätte sagen sollen: Wenn sie sich die Haare aus der Stirn streicht, holt sie den Himmel auf die Erde und man kann den Himmel dann unmöglich ziehen lassen.
    Â 
    Wäre er ein Mann, der sich
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