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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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Gefühlsduselei zu verfallen, was Johans Meinung nach das Schlimmste war und wovon es schon viel zu viel in der Zeitung gab. Die Besprechung von J.I.S. war witzig und wichtig und siedelte den lettischen Roman exakt in seinem historischen, politischen und emotionalen Kontext an: Sie war zutiefst persönlich und doch allgemein menschlich. Es war in jeder Beziehung die Kritik, die Johan gern selbst geschrieben hätte. Am Tag darauf, um 13.07, mehrere Stunden nachdem ihn Dolores,
eine bildhübsche dreiundzwanzigjährige Praktikantin mit einem Hochschulabschluss in Literaturwissenschaft, über den grünen Klee gelobt hatte für das, was sie »den brillantesten Zeitungsartikel des Jahres« nannte, erhielt Johan eine Mail von seinem Chefredakteur, er möge sich möglichst unverzüglich für »einen kleinen Plausch« in seinem Büro einfinden. Ein ganzes Leben lang darauf zu warten, dass genau das geschieht, und dann geschieht es. Die Entlarvung. Dass es vorbei ist, endlich vorbei. Alles. Johan holte tief Luft.
    Â 
    Ein Leser aus Mo i Rana war anscheinend einer der eintausendfünfhundert Menschen dieser Welt, die die deutsche Literaturzeitschrift abonniert hatten, und wahrscheinlich der einzige Mensch in Skandinavien, der wusste, wofür die Initialen J.I.S. standen, wer sich tatsächlich hinter dieser Signatur verbarg. Der Leser aus Mo i Rana hatte das Plagiat sogleich entdeckt und eine erboste und sehr lange Mail an den Chefredakteur geschrieben mit einer Kopie an den Feuilletonchef und an den Leserbriefredakteur. Johan Sletten hatte die Kritik von J.I.S. gestohlen und unter seinem eigenen Namen in der Zeitung veröffentlicht, und das war nach Ansicht des Lesers aus Mo i Rana absolut inakzeptabel. Dies gehörte sich nicht und trug sich in einem Organ zu, das sich Kulturzeitung nannte.

    Johan musterte das Gesicht des Chefredakteurs. Er war nicht wütend. Johan würde im Nachhinein sogar sagen, dass er nicht einmal überrascht schien. Der Chefredakteur mochte Johan nicht, und in den Augen des Chefredakteurs hatte Johan nichts Unerwartetes getan.
    Das heißt, nein! Jetzt gehe ich zu weit.
    Wäre es doch so gewesen, dass er Johan nicht mochte. Johan war ein Angestellter, den die Firma loswerden wollte, das war alles, etwas Überflüssiges, und insofern kam dieses Plagiat, Johans einziges Plagiat wohlgemerkt (er war kein herausragender Journalist, aber er war nicht unfähig! Er hatte sich bisher immer korrekt verhalten. Auf ihn konnte man sich verlassen) im Verlauf der vierzig Jahre bei der gleichen Zeitung, diese Besprechung eines kleinen lettischen Romans, gestohlen von einer noch kleineren deutschen Literaturzeitschrift – 886 Wörter, 4250 Zeichen, Johans Chefs ziemlich gelegen. Peinlich für die Zeitung, ja, und das versäumte der Chefredakteur nicht, Johan mitzuteilen. Der Leserbriefredakteur war gezwungen gewesen, dem aufgebrachten Leser aus Mo i Rana nahezu eine halbe Stunde lang gut zuzureden. Der Leser aus Mo i Rana wollte seinen Brief nämlich in der Zeitung abgedruckt haben (es sei kein Brief, habe er ins Telefon geschrien, es sei ein Kommentar!) und musste davon überzeugt werden, dass es nicht sehr zweckdienlich war, einen Feuilletonisten, dessen Tage gezählt
waren, der ohnehin bald in Ruhestand gehen würde, öffentlich anzuprangern.
    Â 
    Johans letzte Erinnerung an diesen Tag war folgende. Die bildhübsche Praktikantin Dolores weiß nichts. Alle anderen wissen Bescheid. Die Redakteure, die Telefonistinnen, die Sekretärinnen, die Empfangsdame, alle im Archiv, die Journalisten, sogar die vom Sportteil, wissen Bescheid und reden darüber, nur Dolores weiß nichts. Johan geht durch die Flure und alle wissen Bescheid, alle starren ihn an. Es sind Blicke, die er sein ganzes Leben lang vor sich gesehen hat, er kennt diese Blicke, hat schon immer gewusst, dass sie sich eines Tages auf ihn richten würden. Niemand starrt ihn etwa an, weil er ein kontroverser Mann ist. Ein kontroverser Mann begegnet den Blicken anderer Männer und sagt mit seinem eigenen Blick: Ich bin kontrovers. Ich stehe für meine Haltung ein. Aber ein Plagiat ist nicht kontrovers. Für ein Plagiat kann man nicht einstehen.
    Und wie gesagt, Dolores ist die Einzige, die es noch nicht weiß.
    Das dumme, kleine, bildhübsche Mädchen weiß nichts.
    Sie steht vor ihm in dem endlosen Korridor. Sie lächelt. Sie wühlt in ihrer Handtasche,
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