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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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zwanzigjährigem Zusammenleben mit ihm – von einem schwarzen Kombi auf dem Frognerveien angefahren, getötet und somit zum Schweigen gebracht worden, hätte er sie selbst angefahren, hatte Johan oft gedacht.
    Einmal vor langer Zeit hatte Alice an der Kante eines Anlegers gestanden.
    Sie konnte nicht schwimmen, hatte es als Kind nie gelernt, hatte sich nie getraut, nachdem zwei gleichaltrige Mädchen sie einmal in einen Tümpel gestoßen und ihren Kopf unter Wasser gehalten hatten, keinen tiefen See, nur Schmelzwasser in einem Graben, bis sie sich mit ungeahnten Kräften befreien konnte und weggerannt war.
    Und nun stand sie da, auf dem Anleger in der Sonne,
eine erwachsene Frau, Johans Frau Nummer eins, und sah blinzelnd zum Himmel.
    Er konnte niemals ganz erklären, was ihn dazu getrieben hatte, aber plötzlich legte er ihr die Hand auf den Rücken und stieß sie. Kein leichter Stoß, sondern ein überzeugter Siegerstoß, der den erwarteten Effekt hatte: Alice fiel mit einem Schrei ins Meer. Eher verblüfft als verängstigt, stellte er fest.
    Er sprang sofort hinterher und holte sie an Land, unverletzt, aber schreiend.
    Â»Warum hast du das gemacht? Bist du verrückt?« Abwechselnd weinte sie, schrie und schlug um sich. Das Kleid klebte an ihrem Körper, von ihren Haaren, Wangen und Augen tropfte das Wasser, und den rechten Schuh hatte sie von sich gestrampelt. Sie humpelte über den Anleger, verwirrt und verloren: Sie sah ein wenig aus wie ein kopfloses Huhn, dachte er mit einem gewissen Vergnügen.
    Da stellte sie sich vor ihn hin, ballte eine Hand zur Faust und boxte ihm ins Auge.
    Â»WARUM HAST DU MICH INS WASSER GESTOSSEN, JOHAN?«
    Â»Ich ... weiß nicht. Verzeih mir. Ich weiß nicht, was ... was über mich gekommen ist.«
    Er bedeckte sein Auge mit der Hand. Später wurde es blau, violett und gelb.
    Sie ließ nicht locker.
    Â»Warum?«

    Â»Ich weiß nicht, Alice.«
    Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, versuchte, sich etwas einfallen zu lassen.
    Zum Schluss sagte er: »Ich glaube ... ich glaube, ich habe es getan, weil ich dich liebe.«
    Sie blieben ganz still stehen und sahen einander an. Er allerdings nur mit einem Auge. Dann bückte sie sich, löste den linken Schuh vom Fuß und warf auch ihn ins Meer. Barfuß verließ sie den Anleger. Johan blieb stehen und sah ihr nach. Als sie sich umdrehte und nach ihm rief, lächelte sie.
    Er nannte sie gerne sein Pferd. Zum Beispiel, wenn sie sich schwätzend oder schreiend neben ihn aufs Sofa plumpsen ließ. Mit ihrem vollen Gewicht aufs Sofa, auf dem er saß und an nichts Böses dachte, es war, als läge man an einem friedlichen Strand und würde plötzlich von einer dieser großen Wellen überrascht, die ganze Dörfer zerstörten. Oder wenn sie den Mund aufmachte und lachte und dabei die Schneidezähne entblößte. Es war der Anblick ihrer Schneidezähne, der Johan denken ließ, er sei mit einem Pferd verheiratet. Wenn er bisweilen, was nicht sehr oft geschah, einem wirklichen Pferd begegnete, bat er dieses um Verzeihung. Pferde sind schöne Tiere und haben es wahrlich nicht verdient, mit seiner Frau Nummer eins verglichen zu werden, meinte Johan.
    Damals, als sie sich am Anleger umdrehte und ihm zulächelte, erinnerte sie ihn nicht an ein Pferd. Es
war nicht nur ihr Lächeln, es war ihr Blick, das Lachen in ihrem Blick und wie sich dieses Lachen in sein Herz bohrte. Da dachte er, und er dachte es wider Willen, dass sie in jedem Fall die schönste Frau der Welt sei.
    Aber dann war da noch die Sache mit dem Geld. Sie hatten fast kein Geld. Sie hatte etwas mehr als er. Sie bekam Geld von ihrem Vater, wenn sie welches brauchte. Nicht viel, gerade genug, um ein paar Rechnungen zu begleichen und Nahrungsmittel zu kaufen. Einmal, nachdem sie ein besonderes Essen mit gutem Wein und einem leckeren Dessert zubereitet und verspeist hatten, natürlich vom Geld ihres Vaters, sagte sie plötzlich zu Johan: »Ich habe dich gekauft. Du bist gekauft und bezahlt. Weißt du das?«
    Das vergaß er nie.
    Als ihr Vater das Zeitliche segnete und Alice 150 000 Kronen erbte, schlug Johan vor, sie sollten sich scheiden lassen. Er sagte: »Andreas und du, ihr kommt jetzt ohne mich zurecht.« Aber sie gab sich ganz sanft und begehrenswert und sagte, Geld bedeutet überhaupt nichts, Johan. Vergiss das Geld. Vergiss alles. Jetzt
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