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Glutnester

Glutnester

Titel: Glutnester
Autoren: Gabriele Diechler
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Hausaufgaben macht. Sie ist dabei, ein Geständnis zu schreiben. Fein säuberlich malt sie Buchstaben um Buchstaben aufs Papier. Das Geständnis erzählt von einem Schlüssel, den sie an einen Journalisten geschickt hat. Sie hat etwas beobachtet und ist das Gesehene nicht mehr losgeworden. Weil sie nicht wusste, was sie damit anfangen sollte, hat sie diesem Journalisten geschrieben, von dem einige im Dorf gesprochen haben. Dem, der alles aufdecken wollte, was je aufzudecken war. Dem musste sie den Schlüssel schicken, wenn sie wieder ruhig schlafen wollte. Der Schlüssel war zuletzt in den Händen ihres Großvaters gewesen. Er hat mit eben jenem Schlüssel die Tür zu Großmutters Zimmer abgesperrt. Den Schlüssel hat er später wütend auf den Boden geschmissen.
    Marissa horcht nach draußen. Sie hört Stimmen. Es ist das reinste Chaos. Sie weiß nicht, worum es geht. Aber sie fühlt, dass es etwas Ernstes ist.
    ›Ich weiß, weshalb mein Opa meine Oma eingeschlossen hat. Er wollte zur Veronika. Seiner Zuckerpuppe. Und zwar für immer. Er hat’s der Oma gesagt. Als sie’s gehört hat, ist sie durchgedreht. Vermutlich wollte er sich in Sicherheit vor ihr bringen. Sie hat geschrien wie eine abgestochene Sau. Diesmal musste mein Opa vor der Oma in Deckung gehen. Vielleicht ist sie wegen all dem zuckerkrank geworden? Er hatte schon eine Zuckerschnute. Und sie wollte seine sein. Nur später vermutlich nicht mehr. Ich weiß auch nicht. Er ist mein Opa, aber er muss für das, was er angestellt hat, geradestehen. Auch wenn mich das traurig macht. Nachdem ich das mit dem Schlüssel gesehen hab, bin ich raus aus dem Haus. Ich hab’s zu Hause nicht mehr ausgehalten. Ich bin in den Wald. Dort ist eine Stelle, wo ich manchmal hingeh, wenn mir alles zu viel wird. Als ich zurückkam, war niemand im Haus. Mama war mit Gerry beim Arzt. Papa war im Stall. Er hat mir gesagt, wo Mama hin ist. Opa war wie vom Erdboden verschluckt. Und der Schlüssel lag plötzlich auf dem Küchentisch. Vermutlich hat mein Opa ihn dort hingelegt. Ich weiß nicht, warum. Ich hab an Omas Zimmertür geklopft. Nichts. Ich dachte, die ist garantiert eingeschlafen. Oder will niemanden sehen. Nach dem Streit eigentlich echt kein Wunder. Das ist alles, was ich weiß.
    Marissa Kratzer.‹
    Sie faltet den Brief zusammen und steht auf. Als sie zur Tür hinauskommt, sind alle weg. Gähnende Leere auf dem Platz vorm Haus. Tatenlos steht Marissa da. Schaut sich nur um. Als sie sich zur Seite dreht, sieht sie ihre Mutter mit verschmierten Augen hinterm Fenster stehen. Das Fenster gehört längst geputzt. Es ist striemig und wirkt irgendwie kleiner als noch am Tag zuvor, findet Marissa. Genauso wie die Augen ihrer Mutter. Die sind auch so klein geworden. Wie Maulwurfsaugen. Kleine Knöpfe, die jeden Moment ausfallen und davonkullern können. Sie fühlt, wie sich alles in ihr zusammenzieht. Schuld wiegt schwer, spürt sie. Auch sie war schuldig. Schweigen war eine Tat. Sie hatte geschwiegen, wo sie hätte sprechen müssen. Aber damit war jetzt Schluss. Sie würde ihre Lippen öffnen und alles hinauslassen. Jedes seltsam-verstörende und für sie in letzter Konsequenz unverständliche Wort.
     
    Elvira Felber gibt Daten in den Computer ein – während im Radio der kleine Nils, der Erwachsene an der Nase herumführt und allerhand Schabernack treibt, als Gag des Radiosenders entlarvt wird –, als ihre Chefin ins Vorzimmer kommt. »Dieser Journalist, der unlängst da war, Speckbichler oder so …«
    Elvira schaut vom Computer auf. »Speckbacher«, stellt sie richtig. Sie schaut nach und nickt. »Gerd Speckbacher aus Unterwössen. Nicht übel auf den ersten Blick. Groß, rotstichige Haare. Aber bitte keine stürmische Verabredung mit dem. Irgendwas in mir will dich vor dem Kerl warnen. Der steht für Tsunamigefahr.«
    »Genau der«, bestätigt Elviras Chefin und lächelt verschmitzt. »Ich rede keineswegs von einem Date, sondern davon, dass der längst mal zur Kontrolle da gewesen sein müsste.«
    Elvira nickt erleichtert und überprüft, wann der Patient bei ihnen gewesen ist. »Der war zum ersten Mal da, als der Hubs Kratzer sich sein Muttermal nicht entfernen lassen wollte. Demnach hätte er längst zum Fädenziehen bei uns vorbeischauen müssen.«
    »Der war nicht zimperlich. Vielleicht hat er sich die Fäden selbst gezogen? Zuzutrauen wär’s ihm. Das Ergebnis der Untersuchung hat er allerdings auch nicht nachgefragt. Dabei schien ihm sehr daran gelegen, dass alles
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