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Glut und Asche

Glut und Asche

Titel: Glut und Asche
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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vom Spieß, und ein erwartungsvolles Murmeln und Erschauern ging durch die dicht gedrängte Menge seiner Zuschauen Andrej zählte die Köpfe beiläufig - es waren elf - und versuchte die Portion abzuschä t zen, die jeder von ihnen bekäme, wenn sie gerecht teilten. Kaum mehr als einen Bissen, dachte er, gerade genug, um sie ihren Hunger erst richtig spüren zu lassen. Nein, auch wenn er wusste, dass es dumm war, er konnte den Anblick nicht länger ertragen.
    Er seufzte, versuchte ärgerlich, die Stimme seiner Vernunft zum Schweigen zu bringen, die ihm erklären wollte, dass er etwas - womöglich sehr - Dummes tat, und trat, sich übertri e ben räuspernd, aus seinem Versteck in den Schatten des To r bogens heraus. Die rechte Hand senkte er in die Manteltasche.
    Sein Räuspern wäre jedoch nicht nötig gewesen. Im gleichen Augenblick nämlich, in dem er auf den gepflasterten Innenhof hinaustrat, blickte der Junge mit dem Messer alarmiert auf und fuhr mit einer erstaunlich schnellen Bewegung zu ihm herum. Auch die anderen prallten entweder zurück und erstarrten dann, ergriffen die Flucht oder zogen auch - je nach Temperament -ihrerseits das, was sie für eine Waffe hielten: winzige Messer mit schartigen Klingen oder kurze Knüppel.
    »Ihr müsst keine Angst haben«, sagte Andrej rasch, womit er das genaue Gegenteil erreichte. Jemanden, der auf der Flucht und verängstigt und halb verhungert ist, zu überraschen und ihm dann zu sagen, dass es keinen Grund gab, sich zu fürchten, war dazu angetan, ihn erst recht nervös zu machen. Die Furcht, die sich auf den vor Schmutz starrenden Gesichtern der Kinder abzeichnete, nahm noch zu, und bis auf den Jungen mit dem Messer ergriffen nun auch die übrigen die Flucht, auch wenn es nicht allzu viel gab, wohin sie flüchten konnten. Der Hof war an allen Seiten von drei Meter hohen, fensterlosen Backstei n mauern umgeben, und der einzige Weg hinaus führte durch den Torbogen, unter dem Andrej stand.
    »Bitte!«, sagte er, wobei er sich Mühe gab, beruhigend und sanftmütig zu klingen. »Ich will nichts von euch.«
    Das war nicht nur lahm, es zeigte auch keinerlei Wirkung. Sein Gegenüber - Andrej schätzte den Burschen auf höchstens neun Jahre, auch wenn sein Alter, ausgezehrt und schmutzig wie er war, schwer zu erkennen war - sah nur erschrockener aus. Doch er wich keinen Fußbreit zurück, sondern hob trotzig das abgebrochene Messer mit der einen und den verkohlten Spieß mit der noch qualmenden Ratte mit der anderen Hand, und in se i nen Augen erschien ein Ausdruck von erstaunlichem Mut, auch wenn dieser nur aus Verzweiflung geboren sein konnte. Auße r dem sagte Andrej die Haltung, in der er dastand, dass dieser Junge trotz seiner jungen Jahre das Kämpfen gelernt hatte.
    »Wer bist du?«, fragte der Bursche. Er hatte eine helle, zit t rige Kinderstimme, doch es war etwas darin, das Andrej einen tiefen Stich versetzte. Ein Klang, der sie zwanzig Jahre zu früh bitter und misstrauisch machte. »Was willst du von uns?«
    »Jedenfalls nichts ...«, Andrej deutete mit der freien Hand auf die Ratte, »von dem da, keine Sorge.«
    »Und was willst du dann?«
    Statt zu antworten, zwang Andrej ein betont trauriges L ä cheln auf sein Gesicht, nahm mit derselben Hand, mit der er auf die Ratte gedeutet hatte, den albernen Hut ab, der zu seiner nicht minder lächerlichen Verkleidung gehörte, die er angelegt hatte, um in dieser Stadt nicht allzu sehr aufzufallen, und zog endlich auch die andere Hand aus der Tasche. Die Blicke des Jungen folgten jeder seiner Bewegungen, als rechnete er jeden Auge n blick damit, ihn eine Waffe ziehen zu sehen.
    Stattdessen sah er auf seiner Handfläche eine Anzahl kleiner Münzen schimmern. Die Augen des Jungen wurden rund vor Staunen, aber weder rührte er sich, noch ließ er seine beiden improvisierten Waffen sinken, als Andrej sie ihm hinhielt.
    »Nimm«, sagte Andrej auffordernd. »Nur keine Angst. Das ist für euch.«
    Er wäre wohl eher erstaunt gewesen, hätte der Junge sich tatsächlich gerührt. Doch einige der anderen setzten sich in Bewegung. Der Großteil von ihnen blieb sicher in den Schatten, in die sie sich geflüchtet hatten, aber die beiden Jungen, die auch als Letzte geflohen waren, kamen nun, ebenso wie ihr Anführer (nach dem ersten Blick in seine Augen hatte Andrej gewusst, dass er es war), wieder näher, misstrauisch und au f merksam und ihre jämmerlichen Waffen fest umklammernd.
    »Ich verstehe«, seufzte Andrej. Behutsam ging er
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