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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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selbstverständlich verabschiedet undEnrique allein mit Margaret zum Sheridan Square aufbrechen lassen, während die rosenfingrige Morgenröte sich über Lower Manhattan breitete und Enrique, wie er hoffte, in romantischem Licht erschienen ließ.
    Doch Bernard ließ sich die Gelegenheit zu einem Nachtschwärmer-Frühstück nicht entgehen, und so rückten sie zu dritt im Sandolino an, wo sie morgens um viertel nach fünf nicht auf einen Platz an einem der zerschrammten Holztische warten mussten. Es waren nur sechs andere Gäste da, obwohl das 24-Stunden-Restaurant für die noch nicht von Aids heimgesuchte Klientel der Schwulenbars im Westen, die Unistudenten im Osten, die Künstler im Süden, die Touristen im Norden und die depressiven Schriftsteller aller Himmelsrichtungen günstig lag.
    Enrique war verärgert und enttäuscht, dass sie Bernard nicht loswurden, gab aber die Hoffnung nicht auf, denn er vertraute auf seine eigene Ausdauer in Sachen Konversation und vor allem auf die Geographie Manhattans – denn vom Sandolino aus lagen ihre Wohnungen in dieser Reihenfolge: zuerst kam die von Bernard, Eighth Street, Nähe Sixth Avenue, dann die von Enrique etwas weiter östlich, Eighth Street, Nähe MacDougal Street, und schließlich die von Margaret in der Ninth Street, östlich des University Place. Sie würden Bernard verabschieden, und dann würde sich Enrique als Gentleman erbieten, die Dame bis zu ihrer Haustür zu begleiten, und deutlich zu erkennen geben, dass sein Interesse mittlerweile nicht mehr nur darin bestand, zu überprüfen, ob Margaret Cohen überhaupt existierte.
    Enrique und Margaret setzten ihr lebhaftes Gespräch fort, während Bernard kaum etwas sagte. Als Margaret ihren Challah French Toast zu drei Vierteln vertilgt hatte, schob sie den Teller beiseite und beugte sich vor, um das fünf Stunden zuvor abgebrochene Verhör zu Enriques Schulbildung wiederaufzunehmen. Sie wollte wissen, ob er dennwenigstens die Grundschule abgeschlossen habe. Mit großer Geste verkündete Enrique, ja, er sei Absolvent der Public School 173.
    »Was? Neiiin!«, kreischte Margaret mit einem langgezogenen »i«, das ungläubiges Staunen bekundete, und dabei berührten ihre grazilen Finger die dunklen Haare auf Enriques Unterarm, der zwischen ihrem und seinem Kaffeebecher auf der abgewetzten Tischplatte ruhte. Die Fingerspitzen streiften die Haare ganz leicht und verharrten dann direkt über ihnen in der Luft. Enrique hatte das Gefühl, dass sich jedes einzelne Härchen aufrichtete und inständig um Berührung flehte. Er schaute hin, um festzustellen, was da wirklich passierte. Dieser prüfende Blick aber schien Margaret bewusst zu machen, dass sie ihn berührt hatte. Sie sah ihm in die Augen, und Enrique verspürte zum zweiten Mal eine Schockwelle von Empfindungen – mehr als erotischen Kitzel. Offenbar deutete sie seinen Blick falsch, denn sie zog augenblicklich die Hand zurück, als hätte er sie zurechtgewiesen. »Das kann nicht sein«, erklärte sie.
    »Es kann nicht sein, dass ich auf die P. S. 173 gegangen bin?«, fragte Enrique verwundert. »Es war sogar ganz einfach. Ich habe gleich gegenüber gewohnt.«
    »Aber ich war auf der P. S. 173!«, erklärte Margaret, und das längliche Oval ihres Gesichts umrahmte die idealeren Ovale ihrer erstaunten Augen. Diesen Ausdruck sollte er unzählige Male zu sehen bekommen – Margaret, wie sie auf etwas reagierte, das sie verwirrte oder entzückte.
    Enrique schwieg. Margaret war an der Cornell University im gleichen Jahrgang wie Bernard gewesen, also war sie drei oder vier Jahre älter als der frühreife Enrique, der mit sechzehn von zu Hause ausgezogen war. Seine Freunde waren alle vier bis acht Jahre älter als er, weil ihm keine andere Wahl blieb; die Gleichaltrigen waren mindestens zwei Jahre länger auf der Highschool gewesen und dann für vier Jahreauf ein College gegangen. Eigentlich hätte es sein Selbstbewusstsein stärken müssen, dass er schon ein paar Jahre länger im sogenannten Erwachsenenleben stand als seine Altersgenossen, doch er schlug sich immer noch mit den nervösen Unsicherheiten eines Jugendlichen herum. Frauen waren fremde Wesen für ihn, obwohl er drei Jahre mit einer zusammengelebt hatte. Er hatte sämtliche Romane von Balzac gelesen und wusste deshalb, dass man eine Frau, gleich welchen Alters, niemals darauf hinweisen durfte, dass man jünger als sie war. Deshalb sprach er diesen Punkt nur indirekt an: »Ähm, du meinst, du warst gleichzeitig mit
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