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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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fehlgeschlagen. Die Ernährung über die PEJ war ebenfalls gescheitert. Die PE war jetzt Margarets einzige Option. Die letzten drei Tage – die ersten drei Junitage – hatte sie mit glasigen Avitan-Augen und geweiteten Pupillen dagelegen, und in ihrem starren Blick lag eine abgrundtiefe Traurigkeit, die er vorher nie an ihr gesehen hatte. Nicht, als sie sich vor zwei Jahren und neun Monaten, während der erste Rauchpilz aus dem World Trade Center emporquoll, zu ihm umgedreht und gesagt hatte: »Wir sehen gerade, wie Tausende Menschen sterben.« Nicht, als sie erfahren hatte, dass sie Krebs hatte, nicht, als man ihr gesagt hatte, dass er zurückgekehrt war, nicht, als man ihr erklärt hatte, dass man nichts mehr tun könne.Immer war da ihr Zorn gewesen, hart wie ein Kieselstein, der Wille, den Kampf aufzunehmen. Doch an diesem Tag, diesem düsteren Morgen, an dem ihr klar geworden war, dass ihr Magen nie mehr funktionieren würde, dass ihr nichts blieb, als dazuliegen und auf den Tod zu warten, starrten ihn ihre großen blauen Augen aus dem schmalen Gesicht an, und in ihnen lag nackte Seelenpein. »Das muss aufhören«, flüsterte sie ihm ohne Begrüßung oder Einleitung zu. »Ich kann nicht mehr. Tut mir leid, Puff«, nannte sie ihn bei dem Kosenamen, den sie sich im ersten Jahr ihrer Liebe für ihn ausgedacht hatte. »Ich kann so nicht mehr.«
    Er wusste, was sie meinte, tat aber, als hätte er es nicht verstanden. »Ja.« Er trat gegen die Pumpe mit dem dünnen Schlauch, in dem noch der aufgestaute Brei der letzten Nacht war. »Damit ist Schluss. Wir machen wieder die PE.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Du musst mir helfen. Bitte.« Tränen strömten ihr übers Gesicht, so mühelos und stetig wie immer in diesen Tagen, wie Wasser aus einem Hahn. »Ich will sterben. Du musst mir dabei helfen.«
    Er konnte nicht gleich antworten. Und in dieser bestürzten Stille erkannte er, dass er – obwohl er sich so viele Stunden mit Überlebensraten und Metastasierung auseinandergesetzt hatte, obwohl er aus nächster Nähe mit angesehen hatte, wie sein Vater an Prostatakrebs starb – nicht gewusst hatte, dass er etwas Bestimmtes auch verlieren würde: dieses Etwas nämlich in seinem Kopf, dass da war, seit Bernard Weinstein vor neunundzwanzig Jahren an seiner Tür geklingelt hatte. In der Stille ihrer lautlos fließenden Tränen begriff er, dass etwas Essentielles bald nicht mehr da sein würde, und zwar nicht nur die Hoffnung, Margaret könnte überleben. Er hatte kein Wort für dieses essentielle Gefühl. Es war ein Klang, vielleicht sein Name, der gerufen wurde, etwas, das ihm nicht immer gefallen hatte, etwas, nach dem er manchmal wie nach einer Rettungsleine gegriffen hatte,etwas, das er mit Lust besessen hatte, etwas, worüber er sich geärgert hatte. In der Teppichbodenstille dieses Luxuskrankenzimmers fühlte er für einen Moment, wie es verschwand, ein Vorgeschmack auf seine beraubte Zukunft, und er begriff, dass das hier auf eine Art real war, wie nichts je real sein sollte: dass ihre Ehe ein Mysterium war, das er, obwohl er siebenundzwanzig Jahre damit gelebt hatte, verlieren würde, bevor er verstand, wer sie beide waren.

3 ERINNERUNGEN
    G egen fünf Uhr morgens ging Enrique auf, dass das Paket zwar seine Neugier weckte und in vortrefflichem Zustand war, Bernard als Lieferant aber kläglich versagt hatte. Sein entscheidender Fehler bestand darin, nicht wieder zu gehen, nachdem er es abgeliefert hatte. Dabei war doch unübersehbar, dass sich zwischen Enrique und Margaret eine fast schon mit Händen zu greifende Spannung aufgebaut hatte und sie nicht ohne Grund immer weiterreden wollte, auch als Saturday Night Live längst vorbei war. Spätestens als ihnen um 4 Uhr 47 die Zigaretten und der Mateus ausgingen und Margaret auf Enriques Vorschlag, zum Sheridan Square zu gehen und im Sandolino zu frühstücken, begeistert antwortete: »Tolle Idee! Da werd ich mir ganz dekadent einen French Toast mit Challahbrot bestellen!« – spätestens da hätte Bernard, falls er auch nur das geringste schriftstellerische Gespür für Figuren besessen hätte, kapieren müssen, dass es dieser Frau, mit der er in den drei Jahren seit ihrem gemeinsamen Studiumsabschluss gerade mal ein paar Verabredungen zum Essen gehabt hatte, alle lange vor Mitternacht beendet, nicht um den French Toast ging, so lupenrein jüdisch das Brot auch sein mochte, sondern um Enrique. Hätte Bernard auch nur ein wenig Anstand besessen, hätte er sich
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