Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe
Autoren: Klett-Cotta Verlag
Vom Netzwerk:
gewesen war, hatte er gelernt, dass das Wissen um das unglaubliche Faktum der Sterblichkeit seinprimitives Gehirn, das ihm die Natur gegeben hatte, nicht darauf vorbereiten konnte, die Endgültigkeit des Todes zu begreifen.
    Im fünften Monat PE-Routine verbrachte sie ihre Tage damit, auf dem Wohnzimmersofa zu liegen, Wiederholungsfolgen von Law & Order zu gucken und nur gelegentlich eine Exkursion ins Bad zu unternehmen, wobei sie den Aluminiumtropfständer mit dem Einliterbeutel Hydratationslösung so neben sich herschob, als stützte er sie; nachts war sie an die Pumpe mit der milchigen Flüssigkeit angeschlossen, die in ihre Blutbahn lief. Am 10. Mai, als Enrique vom Supermarkt zurückkam, empfing ihn Margaret mit tränenüberströmtem Gesicht. Er hatte Fruchteislutscher gekauft, damit sie etwas Süßes schmecken konnte, das nicht den engen Durchlass ihres Magenschlauchs verstopfen würde. Er hatte die Packung schon geöffnet, um ihr wahlweise Orange oder Erdbeere anzubieten, aber als er ihre Verzweiflung sah, hielt er inne. Obwohl ihr weiter die Tränen hinunterrannen, war ihre Stimme resolut. »Ich kann das nicht. Ich kann so nicht leben. Ich kann nicht den halben Tag an einen Beutel gefesselt sein. Ich halte es nicht aus, ich will mit dir und den Jungen und unseren Freunden essen können. Ich weiß, es klingt so dumm und banal, so läppisch, aber ich kann so nicht leben.«
    Er fühlte, wie es aus der Packung auf seine Jeans tropfte. Er wollte das Eis in den Kühlschrank legen, weil er nicht wusste, ob er, wenn es schmelzen sollte, die Energie aufbringen würde, noch mal zum Supermarkt zu gehen. Aber nachdem sie so gesprochen hatte, konnte er sich nicht einfach abwenden. Seit über einem Jahr, seit ihr Krebs im März zurückgekehrt war, wusste er, dass sie davon ausging, sterben zu müssen. Im September, nach dem zweiten Rezidiv, als sie erfahren hatte, dass es keine erfolgversprechende Therapie gab, hatte Margaret beschlossen, sich keiner experimentellenBehandlung mehr zu unterziehen, sondern die Zeit, die ihr noch blieb, möglichst zu genießen. Er hatte ihre Entscheidung unterstützt und sich mit einer Mischung aus Schuldgefühl und Erleichterung gesagt, dass ihr dann wenigstens die schrecklichen Klinikaufenthalte erspart blieben. Sie würden Zeit haben, ein paar Monate vielleicht, um mit ihren Söhnen zusammen zu sein, noch einmal in ihrem Sommerhaus an der Küste von Maine zu schlafen, sich mit Freunden woanders als in Wartebereichen von Krankenhäusern zu treffen. Sie hatten zu planen versucht, was sie noch machen wollten, aber am sechsten Tag hatte sie es sich anders überlegt. Sie könne nicht aufgeben: Ohne Hoffnung zu leben sei kein Leben. »Ich will keine Abschiedstournee machen«, hatte sie gesagt.
    Enrique stimmte auch dieser Kehrtwende sofort zu, wieder mit Erleichterung. Diesmal, weil dann die Chance bestand, dass doch noch ein Wunder geschah. In Wahrheit war keine Entscheidung vertretbar. Ihn plagten Schuldgefühle und Scham, egal wie er sich verhielt. Sie würde sterben und er nicht; im Kalten Krieg der Ehe war das ein schrecklicher Sieg.
    Seit September lebte er mit einer bescheidenen Hoffnung: ihr das klare Bewusstsein, dass sie die Dinge und Menschen, die sie liebte, zurücklassen musste, ein bisschen erträglicher zu machen. Nichts Grandioses, nichts so Absurdes wie die lichtdurchfluteten Schlussszenen kitschiger Filme. Sein ganzer Ehrgeiz seit dem Herbst war es, ihr den tonnenschweren Schmerz der Gewissheit, sich vom Leben verabschieden zu müssen, ein paar Gramm leichter zu machen. Als er ihr jetzt zuhörte, während die roten und orangefarbenen Eislutscher auf seine Jeans schmolzen, wusste er, dass er es nicht schaffen würde.
    Sie bat ihn, mit ihren verschiedenen Ärzten zu reden und sie zu bitten, irgendetwas, und sei es noch so gefährlich, zu versuchen, damit sie wieder normal essen könne.
    Enrique rief sie alle an. Ihr Urologe, normalerweise sehr entgegenkommend, drückte sich mit dem nachvollziehbaren Argument, dafür sei er nicht zuständig. Der irakische Gastroenterologe weigerte sich, einen Fachkollegen zu empfehlen, es gebe nichts, was man tun könne oder solle. Mit der PE könne sie weiterleben, während man nach einer neuen Heilungsmethode suche. Ihr Onkologe beriet sich zwar mit dem einschlägigen Spezialisten, aber heraus kam der Bescheid, dass der einzig mögliche Eingriff wahrscheinlich nichts an ihrer Gastroparese ändern würde. Die End-zu-End-Anastomose, um die es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher