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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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kann, bevor ich wieder nach Hause fahre, um mit Max zu Abend zu essen.«
    Seit Margaret krank war, redete er so, in Wortschwallen,die dringend einer redigierenden Instanz bedurften, die weder ein richtiges Ende noch eine richtige Mitte hatten. Dass er so redete, war ein Müdigkeitssymptom und eine Reaktion darauf, wie die meisten Leute mit der beängstigenden Krankheit seiner Frau umgingen: Sie fragten Enrique geradezu aufdringlich nach der Logistik dieses Kampfes aus, vermieden es aber sorgsam, dessen wahrscheinlichen Ausgang anzusprechen. Enrique war zwar inzwischen alt – seit drei Wochen war er fünfzig –, hatte sich aber sein jugendliches Faible dafür bewahrt, berühmte Zitate abzuwandeln, damit sein Alltag etwas erhabener erschien. Wenn er selbst das Thema »Sieg oder Niederlage« ansprach und Freunde das Gespräch hastig beendeten, pflegte er vor sich hin zu flüstern: »Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Konversation.«
    Margarets Augen öffneten sich, als er gerade beschlossen hatte, von dem hohen Stuhl neben ihrem Bett aufzustehen, um auf der Couch des Zimmers ein Vormittagsnickerchen zu machen, obwohl ihn die Erfahrung gelehrt hatte, dass Tagesschlaf kaum mehr bewirkte, als aus knurriger, überwacher Müdigkeit hoffnungslose Benommenheit werden zu lassen. Trotzdem war es schwer, der Versuchung zu widerstehen, sich auf die unbequeme Schlafcouch zu legen, die ein Pfleger, während Enrique zu Hause gewesen war, wieder zusammengeklappt hatte. Enrique hatte darauf bestanden, Unsummen (nach Margarets drittem Krankenhausaufenthalt hatten ihre großzügigen Eltern die Kosten übernommen) für ein Zimmer im neunzehnten Stock des Sloan Kettering auszugeben, weil es dort auch für ihn ein Bett gab und er in den trostlosen, beängstigenden Krankenhausnächten bei Margaret bleiben konnte. In dieser sogenannten VIP-Etage sollten die Zimmer denen in einem Luxushotel möglichst ähnlich sein und enthielten daher einen kleinen Schreibtisch, einen bequemen Sessel, einen Couchtisch und eben ein Klappsofa,auf das er sich gerade legen wollte, als Margaret die großen, traurigen Augen aufschlug.
    Sie sagte nichts. Sie fragte nicht nach Max, der heute den Termin für sein Highschoolabschlussfoto hatte. Sie berichtete nicht, ob die Ärzte in Enriques eineinhalbstündiger Abwesenheit noch einmal da gewesen waren. Sie sah ihn an, als ob gerade mitten in einer langen Unterhaltung eine kurze Gesprächspause entstanden wäre und sie gründlich über seine letzte Äußerung nachdächte. Ihre leuchtenden Augen schienen ihn regelrecht aufzusaugen – diese Augen, die so blau waren wie bei ihrer ersten Begegnung und größer denn je in dem abgezehrten Gesicht.
    Sie gehörten zur oberen Mittelschicht New Yorks, waren nach normalen Kriterien vermögend, Bürger der wohlhabendsten Metropole der reichsten Nation der Welt, und Margaret litt seit einem halben Jahr Hunger. Seit Januar behielt sie keine feste Nahrung mehr bei sich und konnte keine Flüssigkeit mehr trinken, weil ihr Magen seinen Inhalt nicht mehr in den Darm entleerte. Dieses medizinisch so wohlklingend Gastroparese genannte Problem war zunächst optimistisch als Nebenwirkung der durch die Chemotherapie akkumulierten Toxine diagnostiziert worden – womit es theoretisch reversibel gewesen wäre. Aber dann hatten mit der Zeit mehrere Spezialisten erklärt, die wahrscheinlichere Ursache seien Blasenkrebsmetastasen, die auf der Außenwand ihres Darms wucherten. Auch kanzeröse Läsionen, zu klein, um im CT sichtbar zu sein, hatten die Darmperistaltik behindert und schließlich ganz zum Erliegen gebracht, sodass nichts, was Margaret schluckte, verdaut werden konnte. Feststoffe und Flüssigkeiten blieben in ihrem Magen, bis sie sich erbrach, weil sie buchstäblich überlief.
    Im Februar dann hatte einer von Margarets vielen Ärzten, ein kleiner, despotischer jüdischer Exiliraker, einen Plastikschlauch, genannt PEG (die Abkürzung für perkutaneendoskopische Gastrostomie ), durch die Bauchwand in ihren Magen eingeführt, um alles, was sie schluckte, in einen Beutel außerhalb des Körpers abzuleiten. Das war auch dann nötig, wenn Margaret gar nichts zu sich nahm. Enrique hatte anschaulich gelernt, dass sich, wenn der Darm nicht mehr arbeitete und der Magen nicht mehr entleert wurde, grünschwarze Galle – von der Leber produzierte und in die Gallenblase abgegebene Verdauungsflüssigkeit – im Magen staute und ihn binnen vier Stunden füllte.
    Ein halber Liter
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