Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gib mir Menschen

Gib mir Menschen

Titel: Gib mir Menschen
Autoren: Ernst Vlcek
Vom Netzwerk:
sagen, daß ich es selbst noch gar nicht wußte, wie ich auch gar nicht wußte, daß ich innerlich eigentlich tot war. Es war die Zeit der ausgelassenen Partys, des süßen Lebens als Selbstzweck. Der zur Schau gestellte Nonkonformismus und die Respektlosigkeit vor der Schöpfung wurde zur Selbstbeweihräucherung. Schau herab, Herr, wenn es dich gibt, und versuche, uns die Selbstbestimmung streitig zu machen. Heute sehe ich es, als wären Adam und Eva mal drei Milliarden daraufhin aus dem Paradies vertrieben worden. Und unsere infantilen Spiele, die wir für intellektuell hielten! ER hat dabei Regie geführt! Und ER hat uns ein Zeichen gegeben, das ich heute besser deuten kann als je.«
    Er klopft mit dem Knöchel auf das Glas, hinter dem sich der Zettel mit dem Vierzeiler befindet: Das Produkt eines der intellektuellen Schreibspiele aus jener Zeit. Die Regeln waren einfach.
    Es wurde ein Thema gestellt, etwa »Alleinsein«, wie in diesem Fall. Jeder mußte eine Zeile dazu beitragen, ohne daß er sah, was sein Vorgänger zu Papier gebracht hatte. Aus diesem Grund wurde der Zettel unter jeder Zeile gefaltet und diese abgedeckt. Es war die Methode »der köstlichen Leiche«, wie sie die Surrealisten um Marcel Duhamel Ende des ersten Viertels dieses Jahrhunderts in der Rue du Chateau Nummer 54 in Paris praktiziert hatten. Dieses klassisch gewordene Spiel hat seinen Namen von dem ersten Satz, der auf diese Weise entstand: »Le cadavre – exquis – boira – le – vin – nouveau« – »Die Leiche – köstlich wird trinken – den – Wein – neu«.
    Er, Martin Korner, letzter Mann der Erde, fühlt sich als diese wirklich köstliche Leiche.
    »Willst du hören, was bei unserem Spiel herausgekommen ist, Sandra?« fragt er das kleine Mädchen, und sie antwortet mit einer Reihe sinnloser Buchstabenkombinationen. Es mutet an wie eine einstudierte Zeremonie, die Liturgie einer eigenen Religion der beiden letzten Menschen. Dieser Vorgang hat sich zwischen Vater und Tochter auch schon oft genug wiederholt. Der Ablauf ist immer der gleiche. Wie dumm und unnütz die Vierjährige auch sein mag, sie scheint es sich gemerkt zu haben, daß dem bloßen Blick zum Bilderrahmen unweigerlich eine bestimmte Prozedur folgt, die mit dem Erzählen einer Geschichte verbunden ist. Es handelt sich immer um dieselbe Geschichte, die ihr Vater da erzählt, aber sie scheint sie zu mögen, obwohl sie sie schon x-mal gehört hat. Vielleicht aber fühlt sie nur instinktiv, daß ihr Vater das braucht. Er muß sich reden hören, er muß zu jemandem sprechen und ihn an seinen Erinnerungen teilhaben lassen. Auch wenn die Zuhörerin nur eine debile Vierjährige ist. Er hat nur noch sie und diese Erinnerungen, denn die Menschen sind ja fortgegangen. Alle. Einfach weg, wer weiß schon wohin?
    Und der Mann liest; früher hätte wohl nur ein gläubiger Mensch einen Psalm so ehrfürchtig rezitiert.
     
    Alleinsein ist das Fegefeuer
    Doch höllisch ist die Zweisamkeit
    Deine Einsamkeit im Strom der Massen.
    Drum gib mir Menschen.
     
    Die zweite Zeile stammt von Sandra – seiner Frau Sandra. Sie hat das Joch der Ehe immer schwer getragen. Den Schlußpunkt hat er selbst gesetzt. Damals hat er ihn für einen guten Gag gehalten. Aber wie oft hat er inzwischen schon diesen Verzweiflungsschrei getan? Gleichwohl ist er noch immer allein. Sandra zählt ja nicht. Sie ist nicht ganz richtig im Kopf und hat nichts von den Fähigkeiten ihrer Mutter geerbt.
    Aber sie kann wenigstens zuhören, und er spricht zu ihr, als könne sie verstehen, was er sagt.
    »Sandra war nie eine treue Ehefrau«, erzählt er; es ist mal wieder soweit, daß er das loswerden muß. »Im Grunde hat mir das nie etwas ausgemacht, denn ich habe mich nie betrogen gefühlt. Daß gerade ihre Untreue ausschlaggebend war für meinen Entschluß, die Einsamkeit zu suchen, hat mit Eifersucht eigentlich nichts zu tun. Mein Entschluß war eigentlich längst gefaßt, daß ich sie in flagranti erwischte, hat nur den letzten Anstoß gegeben. Ich hatte einfach die Schnauze voll von den Menschen. Es war schon eine verrückte Welt, glaub mir das. Zuerst hat man generationenlang den Götzen Technik angebetet, und als dann die Menschheit mit der technischen Entwicklung nicht mehr Schritt halten konnte, da hat man sich auf die sogenannten ›inneren Werte‹ besonnen. Okkultismus und magische Praktiken feierten fröhliche Urständ, was zu einem Rückschritt in Richtung Aberglaube und Mittelalter führte. Ein Sturm
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher