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Gib mir Menschen

Gib mir Menschen

Titel: Gib mir Menschen
Autoren: Ernst Vlcek
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auf den Elfenbeinturm der Wissenschaften setzte ein, der Fortschritt wurde verteufelt. Zurück zur Natur, aber mit allen Mitteln! Wunderheiler und Scharlatane verdrängten die Schulmediziner. Die Suche nach dem Stein der Weisen begann. Er hieß Energie aus der Sonne und aus dem Lokus. Biowärme aus dem Stall und aus der Senkgrube verdrängte die Atomkraft, und wer im Fokus einer Lupe Zunder entflammen konnte, der wurde zum Guru erhoben.
    Ja, und dann kam ein Guru, und der predigte von der Allmacht des Geistes, und er nannte diese Kraft Prana und behauptete, daß jeder Mensch sie in sich trage. Zuerst war Prana nur ein Schlagwort unter vielen, man lächelte darüber, denn man konnte den Begriff aus dem Sanskrit und daß es sich um eines jener Allerweltsworte des Trivial-Okkultismus handelte, das keine feste Bedeutung hatte. Was konnte man von Prana auch schon halten, wenn es bei dem einen der zweite Körper des Menschen in der siebenfachen Konstitution war, beim anderen der dritte Körper, woanders der aufwärtsgehende Atem, und wenn bei Alice Bailey ein jedes der vier Naturreiche sein eigenes Prana hat. Der Guru hätte die neue Religion auch Abrakadabra oder Mumpitz nennen können, sie hätte trotzdem ihren Siegeszug um die Welt angetreten. Und sie tat es spätestens dann, als sich die ersten Erfolge einstellten.
    Die Menschen ließen sich scharenweise die Schädel kahlrasieren und in die Mysterien des neuen Kults einweihen. Und als ich eines Tages vom Büro heimkam, fand ich Sandra mit Freddy in unserem Ehebett engumschlungen liegen, und beide waren sie kahlgeschoren, und Sandra rief mir wütend zu: ›Hau ab, Marty, sonst funkt es nicht. Verschwinde, damit wir gleichzeitig gehen können.‹ Es ›funkte‹ tatsächlich nicht, und Sandra machte mir deshalb heftige Vorwürfe. Ich kann nicht wiedergeben, was sie mir alles an den Kopf geworfen hat, selbst wenn du kein Wort von all den Gemeinheiten verstehst, Sandra. Es war zuviel, und ich hatte genug. Ich wußte, daß es Zeit für mich war zu gehen. Nicht Sandras Seitensprung hat den Ausschlag gegeben, sondern Prana hat mich in die Einsiedelei getrieben. Aber eigentlich war ich schon vorher ein Einsiedler gewesen, als ich noch unter Menschen gelebt habe. Es war also gar kein großer Schritt für mich, den ich von der Großstadt in dieses entlegene Tal getan habe. Und alle Welt machte wie auf Kommando eine Kehrtwendung in die entgegengesetzte Richtung. Es zog sie von den abgelegendsten Orten hin zu den Ballungszentren, der Trend ging zur Großfamilie und zum Massenkollektiv. Im größeren Kreis war Prana leichter erlernbar, wie man am Beispiel von Massenabwanderungen sehen konnte. Der Rekord war, glaube ich, daß tausend Leute auf einmal und zusammen abgingen. Anfangs wurde in den Massenmedien groß darüber berichtet, solange eben, bis auch die Fernsehleute und Zeitungsfritzen ihre Ranzen packten und emigrierten. Aber das ist nur symbolisch gemeint. Schau nicht so dämlich, Sandra! Natürlich konnte man nichts mit nach drüben mitnehmen. Ich habe immer gesagt, daß dies eine andere Art zu sterben sei. Das letzte Hemd hat keine Taschen – und Prana kennt keinen Gütertransport … Es war der fröhliche, euphorische Selbstmord einer ganzen Rasse. An manchen Tagen, da wanderten Millionen von Menschen ab … Wohin? Sie glaubten, in eine bessere Welt, aber ich weiß nicht … Ich kam mir vor wie ein Voyeur.
    Oft hockte ich stundenlang im Hochstand und beobachtete die Gegend und die umliegenden Gehöfte durch das Fernglas. Es war immer und überall das gleiche Bild, und es gab nur zwei Variationen.
    Entweder packten die Leute ihre Siebensachen aus eigenem Antrieb, natürlich durch die Werbung in den Massenmedien eingeheizt. Oder die wenigen Standhaften, die zurückblieben, bekamen irgendwann Besuch von Glatzköpfen und wurden von diesen schließlich umgestimmt.
    Sie fuhren in PKW, mit Lastwagen, Traktoren und sogar mit Pferdegespannen und Handkarren in Richtung der Städte. Ihre Fahrzeuge vollbepackt mit Habseligkeiten, obwohl sie wissen mußten, daß sie nichts von ihrem Besitz mit nach drüben nehmen konnten.
    Ich weiß nur aus den Rundfunkberichten, wie es in den Städten zugegangen ist. Aber vielleicht war es nicht mal maßlos übertrieben, als die Sprücheklopfer vermeldeten, daß Plutokraten nackt auf die Straße liefen und ihren Mammon dem Wind überließen; daß Industrielle ihre Arbeiter aufforderten, die Fließbänder zu demolieren; und daß Bonzen die
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