Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gib mir Menschen

Gib mir Menschen

Titel: Gib mir Menschen
Autoren: Ernst Vlcek
Vom Netzwerk:
Zeichenblättern und Abfällen, ist ganz blaugefroren. Von der Nase baumelt ihr ein Eiszapfen. Nur ihr Kopf und die Arme ragen aus dem Müllberg, der aus leeren Konservendosen und anderem Verpackungsmaterial von Lebensmitteln besteht. Ja, aufs Futtern versteht sie sich!
    »Kann man dich nicht einmal einen Tag allein lassen«, schreit er sie an. Aber er war volle drei Tage weg. Wenn schon, er hat ihr beigebracht, allein aufs Klo zu gehen und wie man Feuer im Ofen unterhält. Und sie kann’s. Doch sie tut es nicht, wenn sie allein ist. Unter seiner Aufsicht macht sie noch ganz andere Sachen. Auf sich allein gestellt, ist sie hilflos, dabei ist sie schon vier.
    Er macht zuerst Feuer, dann stellt er Wasser auf und daneben einen Topf, in dem er einen Block Tiefgefrorenes von der Form und der Farbe eines Ziegelsteins schmelzen läßt. Gulaschsuppe, darauf freut er sich, denn er ist halb verhungert. Wie die Wölfe um den Tamberg. Es scheint, daß der Berglöwe ihnen das Rotwild vertrieben hat.
    Noch vor dem Essen macht er sich daran, zuerst einmal die Unordnung aufzuräumen. Schweinerei! Sandra schaut ihm dabei mit großen Augen, aber desinteressiert zu. Sie ist an allem uninteressiert, an ihr prallt alles ab, und um sie ist ein Mief … ein Mief, sage ich dir! Er entkleidet sie, wäscht sie und zieht ihr frische Kleider an, und sie läßt es teilnahmslos mit sich geschehen. Wenn es nach ihr ginge, würde sie nur ihr Freßbedürfnis stillen und sonst nichts tun. Ja, die Vorratskammer plündern, das konnte sie, und wenn es sein muß, dann spaltet sie die Konservendosen auch mit dem Beil, um an den Inhalt heranzukommen.
    Er fällt wie ein Tier über den Topf mit der Dicksuppe her. Wie das dampft und schmeckt, das heißt, er ist viel zu ausgehungert, um der Speise irgendeinen Geschmack abgewinnen zu können. Aber sie füllt seinen Magen mit wohliger Wärme. Sandra kritzelt wieder aufs Papier.
    »Das Teleskop ist weg«, sagt er schlürfend. »Mußte es auf dem Gipfel zurücklassen, als das Unwetter aufzog.«
    Er ist bei klarem Himmel und strahlendem Sonnenschein aufgebrochen. Auch als er den Gipfel erreichte, herrschte noch richtiges Kaiserwetter. Prima Aussicht von dort oben, man sieht weit ins Flachland hinein. Aber nirgends Menschen. Und dann bewölkte sich der Himmel in Sekundenschnelle, und er nahm sich nicht mehr die Zeit, das Teleskop zusammenzupacken und mitzunehmen. Und dann brach auch schon der Schneesturm los.
    »Ich werde es im Frühjahr holen«, sagt er und rülpst. Sandra zeigt ein Lächeln, solche Laute sind ihr vertraut, sie gibt keine anderen von sich. Das ist ihre Art des Redens.
    »Bebbel-a-Babbel-dada«, sagt sie.
    »Vielleicht gibt’s mal Föhn, dann kann ich eher hinauf«, sagt Martin und hebt drohend den Zeigefinger, als er fortfährt: »Aber nur, wenn du artig bist.«
    Sie wird es nicht sein, er weiß es. Sie wird sich nicht zusammenreißen und nicht allein aufs Klo gehen, sondern die Vorräte plündern und die Hütte in einen Saustall verwandeln.
    Jetzt herrscht wieder Ordnung, und er fühlt sich gut. Gerade noch hat er geglaubt, zum Umfallen müde zu sein, aber jetzt fühlt er sich eigentlich recht munter.
    »Bam-dada. Dada!« sagt Sandra, und ihre Basedowaugen hängen an dem Bilderrahmen an der Wand.
    Er geht hin, nimmt ihn ab und kehrt damit auf seinen Platz zurück. Er setzt sich wieder und legt den Bilderrahmen mit der Vorderseite nach oben auf seinen Schoß. Zwischen der Rückwand und dem Glas ist ein abgegriffenes Blatt Papier eingeklemmt. Darauf stehen vier Zeilen in verschiedenen Handschriften. Unter jeder Zeile sieht man noch deutlich die geraden Faltstellen.
    »Ja, das waren noch Zeiten«, sagt er versonnen. Sandra brabbelt irgend etwas. »Ja, ja«, sagt er wieder und wieder: »Ja, ja. Es war eine beschissene Zeit, aber heute erscheint sie mir wie eine goldene. Damals war die Welt noch voller Menschen. Doch wer war sich dessen schon bewußt? Ich meine, man lebte ja nicht miteinander, sondern nebeneinander. Jeder ein unerreichbarer Geist für den anderen.«
    Sandra gibt wieder eine Reihe unartikulierter Laute von sich, und er sagt, als könne er einen Sinn und besonders eine Frage heraushören, wie zur Antwort:
    »Der Vierzeiler stammt aus einer Zeit, da war Prana noch kaum ein Begriff. Die Menschheit schien der Selbstvernichtung entgegenzustürmen, und ich versuchte, meine innere Leere durch alle erreichbaren Sinnesgenüsse aufzufüllen. Damals haßte ich die Menschen noch nicht – will
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher