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Gib mir Menschen

Gib mir Menschen

Titel: Gib mir Menschen
Autoren: Ernst Vlcek
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öffentliche Beichte ablegten. Und solcherart gereinigt, gingen sie ab. Prana machte es möglich.
    Ich war der Zaungast, der dieses Treiben aus der Ferne beobachtete. Zuerst machte ich meine Beobachtungen mit einem einfachen Universalglas, dann griff ich zu einem Jagdglas mit zwanzigfacher Vergrößerung und bediente mich bald darauf eines Schmidt & Bender-Zoom mit einer Vergrößerung von 15–60x. Dieses tauschte ich endlich gegen ein Teleskop aus, dessen Reichweite so groß war, daß ich damit bis weit ins Flachland, fast bis zur nächsten Stadt, sehen konnte.
    Es steht jetzt auf dem Gipfel des Tambergs, aber wie weit es auch reicht, ich sehe keine Menschen mehr.
    Bis vor einem Jahr hatte ich einen Forstarbeiter im Fadenkreuz. Er verschwand manchmal für Tage und Wochen, aber irgendwann stöberte ich ihn immer wieder auf. Manchmal auch auf einer Almwiese, oder in einer Felswand unter Gemsen.
    Je länger ich ihn beobachtete, desto mehr fühlte ich mich mit ihm verbunden, und ich nahm mir oft vor, zu ihm zu gehen und mit ihm zu sprechen. Aber irgendwie scheute ich stets davor zurück, und als ich mich endlich dazu aufraffen wollte, fand ich ihn nirgends mehr. Ich muß annehmen, daß er sich entweder von einer Felswand in den Tod gestürzt hat, oder daß ihn ein Prana-Jünger aufgestöbert, bekehrt und abgeschleppt hat. Damals war mir zum Heulen, und nun habe ich die Gewißheit, daß ich der letzte Mensch der Erde bin. Dich ausgeklammert, Sandra.
    Es tauchen nicht einmal mehr Kahlgeschorene auf, die die Wälder nach Eigenbrötlern absuchen, wie ich einer bin. Sie glauben offenbar, daß sie das gesamte Land erschlossen und alle intelligenten Geschöpfe zu Prana bekehrt hätten. Ich habe mich vor ihnen immer versteckt, seit ich die Bekanntschaft eines von ihnen gemacht habe. Es war eigentlich eine Sie, ein ganz durchtriebenes und hartnäckiges Luder. Sie hätte mich fast geschafft, wenn nicht …
    Zu dieser Zeit, vor etwa fünf Jahren, boten sich mir mit dem Jagdglas noch recht gute Ausblicke. Im Radio wurde sporadisch gesendet, aber es handelte sich ausschließlich um Werbesendungen für Prana, die Kraft, mit der angeblich jeder Mensch das Tor zum Paradies aufstoßen kann.
    Es lag nochmals fünf Jahre zurück, daß ich der Zivilisation den Rücken gekehrt hatte. Ich hatte keine Ahnung, was aus meinen Freunden und Verwandten geworden war, durfte aber annehmen, daß Prana ihre Zahl auf Erden drastisch verringert hatte. Ich dachte damals oft voll Bitternis an Sandra, meine Frau, und ihren großen Bekanntenkreis, und ich verfluchte sie alle und wünschte ihnen, daß Prana sie geradewegs in die Hölle gebracht haben möge. Dann wiederum überkam mich das heulende Elend, und ich glaubte, die Einsamkeit nicht mehr länger ertragen zu können. Es ist etwas anderes, ob man für sich allein ist, jedoch die Nähe von Menschen spürt, oder ob man die Gewißheit hat, daß es bald niemanden außer einem selbst mehr geben wird. Es half mir jedoch stets über meine Melancholie hinweg, wenn ich mit dem Fernrohr eine Anhöhe aufsuchte und von dort die Menschen aus der Ferne beobachten konnte. Das beruhigte.
    Von einer solchen Tour kam ich eines Tages zu meiner Hütte zurück und merkte sofort, daß jemand in der Nähe war. Ein Einsiedler entwickelt in solchen Dingen einen eigenen Sinn, ohne selbst sagen zu können, ob er nun die Ausdünstung anderer Menschen spürt, oder ob sein Bewußtsein einfach nur gewisse Umweltveränderungen registriert und eine Alarmanlage in seinem Kopf klingeln läßt.
    Ich wußte jedenfalls, daß da jemand war.
    Meine erste Empfindung war Zorn, dann stellte sich Übelkeit ein, und ich wollte dem steigenden Bedürfnis, einfach davonzulaufen, schon nachgeben. Aber dazu kam es nicht mehr, denn auf einmal stand sie vor mir.
    Sie trug ein leinenes Wickelkleid, unter dem die nackten Zehen zwischen den Riemen der Sandalen hervorsahen. Da ihr Kopf kahlgeschoren war, hätte ich sie fast nicht wiedererkannt.«
    Aber sie sagte:
    »Na, Marty, willst du deiner Frau nicht wenigstens einen Begrüßungskuß geben? Oder schmollst du noch immer?«
    Es war Sandra.
    Eigentlich hatte sie sich in den fünf Jahren kaum verändert. Als ich sie damals verließ, hatte sie ja schon eine Glatze gehabt, nur hatte man an den dunklen Haarwurzeln gemerkt, daß sie rasiert war. Jetzt war ihr Schädel spiegelblank, und später erzählte sie mir, daß die Beschäftigung mit Prana bei ihr zum Haarausfall geführt hatte. So erging es allen, die
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