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Gib mir Menschen

Gib mir Menschen

Titel: Gib mir Menschen
Autoren: Ernst Vlcek
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wirklich voll in diese Disziplin einstiegen.
    Ich wandte mich ab und stürzte in die Hütte. Sandra folgte mir nicht. Es vergingen Stunden, ohne daß ich irgendein Lebenszeichen von ihr bekam, und ich hoffte und bangte, daß sie wieder fortgegangen sein könnte. Irgendwann ertrug ich diese Ungewißheit einfach nicht mehr und ging wieder ins Freie.
    Und da saß sie im Abendrot auf der Bank vor dem Haus, bewegungslos und wie in Meditation versunken.
    »Kann man jetzt wieder mit dir reden?« fragte sie mit geschlossenen Augen.
    »Was willst du?«
    Es waren die ersten Worte, die ich seit fünf Jahren sprach, von den Selbstgesprächen abgesehen, die ich mir erlaubt hatte, aber die zählten nicht, denn das war ja nur laut gedacht. Es gefiel mir, die Frage zu wiederholen.
    »Was willst du hier, Sandra?«
    »Dich holen«, antwortete sie. »Ich möchte, daß du mit nach drüben kommst. Das Paradies steht allen Menschen zu.«
    »Verschwinde!« stieß ich hervor, bereute es aber im gleichen Moment, daß ich das Wort aussprach. Zum Glück blieb es mir erspart, einlenken zu müssen, denn Sandra rührte sich ohnehin nicht von der Stelle.
    »Darf ich nicht wenigstens eine Nacht bei dir bleiben?«
    Sie blieb diese eine Nacht, und die Nacht darauf und die folgenden Nächte. Wir sprachen nicht viel miteinander. Sie hatte in dieser Beziehung eine Antenne und merkte es, wenn einem nicht nach Reden zumute war, und, was noch mehr zählte, sie stellte sich darauf ein. Einmal streute sie ein, daß Prana es ihr ermöglichte, sich in die Psyche anderer Menschen hineinzuversetzen.
    »Ich lese in deiner Seele wie in einem Buch, Marty«, sagte sie. »Du bist einsam und unglücklich. Ist das nicht der beste Beweis dafür?« Sie deutete auf den eingerahmten Vierzeiler. »Im Grunde genommen trauerst du den alten Zeiten nach und bedauerst, daß du dich in ein Schneckenhaus zurückgezogen hast. Aber du bist leider auch stur und würdest einen Fehler niemals zugeben.«
    »Ich bin glücklich«, sagte ich. »Mir wird schon übel, wenn ich nur an die Hohlköpfe denke, mit denen ich mich jahrelang abgegeben habe. Und du widerst mich erst recht an.«
    Früher wäre sie einer solchen Bemerkung wegen hochgegangen. Aber jetzt zeigte sie nur ein penetrant verständnisvolles, mitleidiges Lächeln.
    »Du willst ja gar nicht allein sein, Marty. Deine Sammlung von Feldstechern und Fernrohren beweist das. Du hängst an den Menschen, und daß du die Einsamkeit wähltest, war doch nur ein Kompromiß. Du gingst in dem Bewußtsein fort, daß trotzdem immer Menschen um dich sind. Jetzt bekommst du es plötzlich mit der Angst zu tun, weil du weißt, daß du bald wirklich ganz alleine sein wirst. Das wird dann endgültig sein, und es schreckt dich, weil alles Endgültige und Unabänderliche der reinste Horror für dich ist. Gib es zu, Marty. Quäl dich nicht länger. Wirf das Handtuch und komm mit.«
    Da sah ich auf einmal rot und schlug sie. Ihre Unterlippe platzte auf wie eine überreife Frucht. Und das war ein Schock für mich.
    Ich war auf einmal über ihr, umarmte sie und drückte sie an mich und küßte sie auf den blutenden Mund. Es war eine leidenschaftliche Umarmung, ein wilder, animalischer Kuß. Ich klammerte mich förmlich an sie, saugte mich an ihr fest, und obwohl sie passiv blieb, wußte ich, daß ich diese Kraftprobe verloren hatte, so wie eine Ertrinkender dem Rettungsschwimmer unterlegen ist.
    Mich überkamen Ärger und Scham wegen dieser Schwäche, und ich stieß sie in meiner Hilflosigkeit von mir und lief davon. Ich war drei Tage fort, beobachtete die Hütte jedoch aus einem Versteck.
    Als ich merkte, wie Sandra Anstalten traf, meine Behausung wieder zu verlassen, kehrte ich zurück. Sie nahm mein Erscheinen gelassen und fast schon als Selbstverständlichkeit auf.
    »Marty«, sagte sie, »du kannst mir nichts vormachen. Ich kenne deine Gedanken. Ich werde versuchen, das Beste für dich zu tun.«
    Sie war nicht um meiner selbst willen gekommen, das sagte sie mir auf den Kopf zu. Sie liebte mich nicht mehr oder weniger als alle anderen Menschen.
    In allen Ländern, auf allen Kontinenten waren Missionare wie Sandra unterwegs, um Ungläubige, Skeptische, Wankelmütige und Ängstliche wie mich zu bekehren. Sandra war nur zu mir gekommen, weil sie mich kannte und auf meine Gefühle zu ihr baute und so hoffte, mich eher als jeder andere umstimmen zu können. Es wurde bald offenbar, daß sie mich nicht zu meinem Glück zwingen wollte, sondern mit Geduld und
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