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Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel

Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel

Titel: Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
Autoren: Frl. Krise
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ständigen überlauten Gedudel zu tun, das aus den Kopfhörern der iPhones auf die angeschlagenen Innenohre prallt – und das seit Jahren. Sollten meine Schüler demnächst alle ein Hörgerät benötigen, ist ihnen jedenfalls der Umgang mit dem Knopf im Ohr vertraut.
    Eigentlich tun sie mir leid, meine Schüler. So jung und schon so eingeschränkt. Ich will mich damit nicht abfinden. Da muss noch was zu machen sein!
    Und so rufe ich Ignorantin den Jungen zu, die sich in der anschließenden Pause langsam von einer Ecke des Hofs in die andere schleppen: «Mensch, geht doch auch mal auf den kleinen Bolzplatz! Die Jungs von der 8c spielen da immer soooo schön Fußball!»
    Erkan dreht sich um, verzieht schmerzhaft das Gesicht, legt die Hand in die Nähe der linken Niere und flüstert nur ein Wort: «Rücken!»

Wie schafft man das?
    «Frau Schuster, könnten Sie sich vielleicht vorstellen, meine Tutorin zu werden?» Frau Schuster war nur wenig älter als ich, schon Mutter von zwei Kindern und ein etwas freudloser Charakter. Aber sie hatte Biologie als Fach. In Kunst gab es sowieso niemanden für mich – der Oberstufenkunstkollege agierte in ganz anderen Sphären.
    Frau Schuster guckte mich erschrocken an und setzte ihre Teetasse mit einem kleinen Ruck ab. Wir hatten gerade große Pause, und man sah ihr an, dass sie eigentlich ihre Ruhe haben wollte.
    Ausgerechnet Tutorin! Dieser unbeliebte Job! Als solche ist man Anlaufstelle für die Referendarin oder den Referendar bei allen täglichen kleinen und großen Problemen, die sich in der Schule auftun. Als Tutorin muss man sich kümmern, beraten, helfen, Mut zusprechen und trösten – eine Menge Mehrarbeit ohne Bezahlung.
    «Tutorin? Nein, lieber nicht», sagte sie freundlich, aber entschlossen und öffnete eine Plastikdose mit Apfelschnitzen. «Ich habe zu viel zu tun. Wirklich, das schaffe ich nicht. Ich bin ja auch erst seit zwei Jahren an der Schule …»
    Den Rest ihrer Rede habe ich vergessen. Ich weiß aber noch genau, dass ich dachte: Himmel! Zwei Jahre! So lange ist die schon Lehrerin! An dieser Schule! Unvorstellbar! Wie hat sie das bloß geschafft?
    Das ist übrigens eine Frage, die mir heute oft Schüler, Eltern, Kollegen, Freunde und Fremde stellen: «Neununddreißig Jahre Schuldienst, Frl. Krise! An mehreren Schulen haben Sie unterrichtet, sich von West nach Ost quer durch die Republik gearbeitet. Und Sie gehen noch gern in die Schule? Wie haben Sie das bloß geschafft?»
    Dazu kann ich nur sagen: Ich weiß es nicht.
    Vermutlich deshalb, weil ich jeden Tag hingegangen bin, außer – ich war krank, natürlich. Jeden Tag hingehen, das ist schon die halbe Miete. Und dann nahm ich mir auch jeden Morgen vor, heute endlich einmal guten Unterricht zu machen. Schon bei dem Gedanken daran erwachte eine gewisse Kampfeslust in mir. Inzwischen gelingt es mir ab und an, allerdings ging das nicht von heute auf morgen. Auf jeden Fall fällt mir das Unterrichten heute viel leichter als früher.
    Anscheinend lernt man Unterrichten nur durch Unterrichten …
    Liebe Referendare, die ersten zehn Jahre sind hart, aber dann wird’s langsam besser. Stellt euch gleich drauf ein!

Nicht gleich sterben
    Merve kommt in der Fünf-Minuten-Pause zwischen zwei Stunden an mein Pult. Ich nutze gerade die kurze Zeit, um weiter in meinem Notenheft herumzurechnen. Scheiße, diese Notengeberei macht mich echt fertig. Hunderte von Noten muss ich in wenigen Tagen ausrechnen, und Rechnen ist nicht mein Ding. Schon gar nicht Kopfrechnen.
    53 Notenpunkte : 4 Arbeiten = das geht doch nicht auf!
    «Frl. Krise», fängt Merve an. «Frl. Krise, ich muss Sie mal was fragen.»
    «Frag, frag», sage ich und versuche innerlich verzweifelt weiterzurechnen: 40, Rest 13 im Sinn, geteilt durch 4, gibt …
    «Meine Oma ist krank», sagt Merve mit Grabesstimme.
    «Hm, hm», sage ich. Gibt 3, Rest 1 … «Was hat sie denn, deine Oma?»
    «Ich weiß nicht. Ich glaube, sie hat Herz!»
    Ich rechne blitzschnell zu Ende: 13! Also 13 Punkte. Was, so viel? Kann nicht sein! Ich lege den Stift beiseite.
    «Herz, oje! Aber du wolltest mich doch was fragen, Merve», ermuntere ich meine Schülerin. Inzwischen dämmert es mir längst, worauf das alles hinauslaufen wird.
    «Ja, sie liegt Krankenhaus», sagt Merve weinerlich. «Wir wollen bisschen früher Türkei gehen, bestimmt sie stirbt bald! Und ich wollte fragen, ob ich darf.»
    «Merve.» Ich blicke sie ernst an. «Verstehe ich das richtig, ihr wollt früher in
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